Sexueller Missbrauch - Die Narben auf der Seele



Ein Thema habe ich hier im Blog bisher noch nicht aufgegriffen, obwohl es eigentlich eines ist, das mir sehr am Herzen liegt und mich auch in der Arbeit immer wieder begleitet: die Folgen sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen. In den letzten Wochen hat es sich aber mal wieder sehr in den Vordergrund gedrängt; einmal deshalb, weil unsere Notruf- und Beratungsstelle für Frauen in Landau 15jähriges Jubiläum hatte und wir aus diesem Anlass die bekannte Traumatherapeutin Michaela Huber als Gastreferentin eingeladen hatten, und zum anderen deshalb, weil mich über iPersonic zwei Frauen angeschrieben haben, die zu diesem Thema Unterstützung suchten. Also ist es offensichtlich an der Zeit, darüber zu bloggen ... wahrscheinlich sogar mehrmals.

Ich fange mal an mit ein paar Zahlen aus Frau Hubers Vortrag, die mich - obwohl ich doch seit fast sieben Jahren mit diesem Thema befasst bin - trotzdem wieder erschüttert haben:
  • Laut einer Überblicksstudie aus dem Jahr 1993 erleidet jedes fünfte Mädchen und jeder 10. - 20. Junge sexuelle Gewalt in der Familie.

  • Sexualisierte Gewalt ist das Trauma, das am häufigsten eine so genannte komplexe Posttraumatische Belastungsstörung auslöst. In Deutschland sind von dieser Störung Schätzungen zufolge zwischen 850.000 und 2,12 Millionen betroffen. Symptome sind unter anderem so genannte „Flashbacks“ (quälendes Wiedererleben der Situation, sich aufdrängende Erinnerungsfetzen), chronische Übererregung, selbstverletzendes Verhalten und Angst- und Panikattacken).

  • Frauen, die in Kindheit und Jugend bereits körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt haben, sind dreimal so häufig wie andere von Gewalt in Paarbeziehungen betroffen.
    Frauen, die sexuelle Gewalt in der Familie erlebt hatten, werden viermal so häufig Opfer sexueller Gewalt nach dem 16. Lebensjahr wie andere (erleben also z. B. noch eine Vergewaltigung oder sexuelle Belästigung).

Laut Statistik des Bundeskriminalamts werden in Deutschland jährlich etwa 16.000 Kinder sexuell missbraucht. Diese Zahl betrifft die zur Anzeige gebrachten und strafrechtlich verfolgten Delikte. ExpertInnen gehen von einer bei weitem höher liegenden Dunkelziffer aus. Die Schätzungen dazu variieren; eine Dunkelziffer von 1:15 scheint aber mindestens realistisch zu sein. Übrigens ist der Begriff „sexueller Missbrauch“ nicht unumstritten, setzt er doch auch einen akzeptablen „sexuellen Gebrauch“ von Kindern implizit voraus - er hat sich aber mittlerweile für Delikte, die an unter vierzehn Jahre alten Kindern begangen werden, weitgehend eingebürgert; daher bleibe auch ich bei diesem Ausdruck.

Die Täter kommen im allgemeinen aus dem nahen sozialen Umfeld des Kindes; der Missbrauch durch völlig Fremde (der in den Medien meist hochgepuscht wird) ist die absolute Ausnahme. Viel gefährlicher für das Kind sind Familienangehörige - Väter, Stiefväter, ältere Brüder, Opas, Onkel, neue Partner der Mutter. Aber auch andere Vertraute des Kindes und der Familie machen einen großen Prozentsatz aus: der Nachbar, der Arbeitskollege des Vaters, der Babysitter, der Sporttrainer, der Vater der besten Freundin usw. Schon das widerlegt einen der „klassischen“ Mythen, die sich um das Thema sexueller Missbrauch so ranken, nämlich den, dass die Täter spontan und quasi in einem Zustand, da sie von ihrem eigenen Trieb überwältigt werden, agieren. Studien zeigen immer wieder: 63 % der Täter planen ihre Tat weit im Vorfeld; weitere 15 % zumindest kurzfristig. Ganz gezielt und bewusst schaffen sie Gelegenheiten, um sich ungestört dem ausgewählten Opfer zu nähern. Und in sehr vielen Fällen findet der Missbrauch nicht einmal statt, sondern mindestens mehrmals - oft genug über viele Jahre hinweg. Auch das passt ganz und gar nicht zu der „spontan-und-triebgesteuert“-Theorie. Ursula Enders kristallisierte in einer Untersuchung heraus, dass die Täter beispielsweise speziell nach Kindern suchen, die eher autoritär erzogen werden (also gelernt haben, dass sie nicht widersprechen sollen), die emotional vernachlässigt sind (und daher besonders schnell auf scheinbare Zuneigung anspringen) oder die wehrloser sind als andere, weil sie besonders klein, schüchtern oder behindert sind.

Auch die Strategien, mit denen die Täter dafür sorgen, dass das Kind sich niemandem anvertraut, sprechen ganz klar für ein geplantes und bewusstes Vorgehen: Da wird der Missbrauch als ein gemeinsames Geheimnis deklariert oder gar dem Kind die Schuld daran zugeschoben („du wolltest das ja selber“). Hilft das nicht oder nicht mehr, dann folgen eindeutige Drohungen: „Wenn du das jemandem erzählst, dann stirbt deine Mama!“ - „Wenn du mit jemandem darüber sprichst, dann bringe ich dein Meerschweinchen um!“ - „Wenn du das deiner Mutter erzählst, geht dein Papa weg und kommt nie, nie wieder nach Hause!“ In einer Studie von Conte, Wolf & Smith, in der Täter aufgefordert wurden, ein Handbuch zu schreiben, wie man ein Kind missbraucht, finden sich folgende „Anweisungen“: „Such ein Kind aus, welches eine schlechte Beziehung zu den Eltern hat, ... welches wenig Freundinnen hat ... Geh langsam vor ... Sieh zu. dass Dir so viele Leute wie möglich aus der Umgebung des Kindes vertrauen ... Lass Pornos herumliegen. Rede über Sex. Beobachte die Reaktionen des Kindes ... Tu so, als wäre das etwas ganz Normales ... Berühre wie zufällig ihre Brust ... Benutze Liebe als Köder ... Drohe ihr niemals. Gib ihr die Illusion, dass sie frei entscheiden kann, ob sie mitmachen will oder nicht.“ Spontane Leidenschaft? Unkontrollierbarer Trieb? Wohl eher nicht ...

Die Folgen für die Opfer sind katastrophal und umso schlimmer, da viel zu wenige von ihnen Hilfe bekommen. Statistiken zeigen, dass selbst ein Kind, das versucht, über den Missbrauch zu sprechen, sieben (!) Anläufe dazu unternehmen muss, bis ihm von einem Erwachsenen geglaubt wird. Allzu ungeheuerlich ist offenbar immer noch die Vorstellung, der nette Bekannte oder der sympathische Vater könnte so etwas Schlimmes tun. Perfiderweise ist sexueller Missbrauch auch oft etwas, was quasi generationenübergreifend in Familien weitergegeben wird - und zwar über die Mütter an die Töchter! Gerade Frauen, die als Kinder selbst sexuell missbraucht wurden, dieses Trauma aber verdrängt und nicht integriert haben, behalten oft eine Art blinden Fleck bei dieser Thematik und sind dann leider sehr, sehr oft nicht in der Lage, ihre eigenen Kinder vor Übergriffen zu schützen. Ich werde nie vergessen, wie eine Klientin mir tränenüberströmt von dem Abend erzählte, an dem ihre Mutter die Tür zum Kinderzimmer öffnete, während der Stiefvater sie missbrauchte. Für einen Augenblick dachte sie, jetzt müsste alles gut werden und ihre Mutter würde ihr Martyrium beenden ... und dann zog diese die Tür leise von außen wieder zu und verlor nie ein einziges Wort über diesen Vorfall. Kann man sich als Nicht-Betroffener auch nur ansatzweise vorstellen, was in so einem Augenblick in einer Kinderseele vorgeht? Ich glaube es nicht.

Was Hilfe oft so schwierig macht, ist auch die Tatsache, dass die Symptome des Traumas gar nicht so selten viele Jahre oder gar Jahrzehnte in einem „schlummern“ können, ohne sonderlich aufzufallen. Gut, da sind vielleicht manchmal Albträume, aber wer hat die nicht? In Sachen Sexualität hat man mit der einen oder anderen Schwierigkeit zu kämpfen; es macht nicht wirklich viel Spaß und manchmal sind da auch unerklärliche Schmerzen oder Angstzustände ... aber man kann damit umgehen und nimmt sie hin. Und wer käme spontan auf die Idee, eine Essstörung oder auch anderes Suchtverhalten mit diesem Missbrauch in Verbindung zu bringen? Es ist ja auch alles so lange her .. und man will sich auch nicht wirklich erinnern. Lieber alles da lassen, wo es ist. Lieber nicht so genau hinschauen. Man hält das Gleichgewicht, mühsam, aber doch, und man will nichts tun, was dieses Gleichgewicht, so prekär und labil es auch manchmal scheint, gefährden könnte. Außerdem - war es denn wirklich so schlimm? Ich habe Frauen sagen hören, dass es ja eigentlich nicht die Ursache ihrer Probleme sein könnte, dass sie missbraucht wurden, denn „es war ja nur das eine Mal“ oder „es war ja nur oral, er hat mich nicht wirklich penetriert“. Und ich könnte jedes Mal schreien, wenn ich so was höre, denn da sprechen die Täterintrojekte aus ihnen: die Anteile, die ihnen der Täter damals mitgegeben hat, damit sie den Mund halten, damit sie sich keine Hilfe holen, damit er ungeschoren davon kommt ...

Ach so, und a propos davonkommen: Sie kommen davon. Viel zu viele von ihnen, fast alle. Abgesehen davon, dass die riesige Dunkelziffer der Fälle niemals zur Anzeige kommt, liegt auch die tatsächliche Verurteilungsrate bei sexualisierter Gewalt unter einem Promille. Wer nicht davon kommt, das sind die Opfer. Eine Betroffene hat einmal den klugen Satz gesagt: „Auf Vergewaltigung steht lebenslang - für mich.“ Ob es nun eine posttraumatische Belastungsstörung ist, eine Borderline-Störung (die zu einem sehr hohen Prozentsatz einen Missbrauch in der Vorgeschichte aufweist) oder eine dissoziative Störung: das Opfer ist es, das sich mit den Folgen herumschlagen muss. Und selbst wenn es nicht zu einer dieser psychischen Störungen kommt, werden die betroffenen Frauen doch überdurchschnittlich häufig gewalttätig gegen sich selbst oder gehen Partnerschaften mit Männern ein, die sie misshandeln.

Und dann kommt ein Tag, vielleicht Jahre oder Jahrzehnte nach dem Missbrauch, wo das Ganze kippt. Manchmal kann man im Nachhinein rekonstruieren, was der Auslöser dafür war, oft aber auch nicht. Eigentlich spielt es auch keine Rolle. Aber wie aus dem Nichts sind dann die Symptome da: Angstattacken, Herzrasen, Schlaflosigkeit, Flashbacks, Suizidgedanken. Oder irgendwelche selbstzerstörerischen Verhaltensweisen, die bisher „nur“ im Kettenrauchen, zu viel Alkohol oder einer Essstörung ihren Ausdruck fanden, eskalieren und man beginnt, sich zu ritzen oder anderweitig selbst zu verletzen. Oder man muss nach einer langen Odyssee von Arzt zu Arzt und von Heilpraktiker zu Heilpraktiker endlich erkennen, dass die körperlichen Probleme, die einen da schon so lange quälen, wohl doch eher der Seele entspringen als irgend einem geheimnisvollen Virus oder Pilz ... Das ist für die meisten Betroffenen eine furchtbare Erkenntnis.

Aber es gibt Hilfe. Es gibt Beratungsstellen, TraumatherapeutInnen und -kliniken. Es gibt ein Netzwerk an Selbsthilfegruppen - oft die erste und mit eine der wichtigsten Anlaufstellen für Betroffene. Und es gibt einen Weg da raus; ich habe es jetzt schon oft miterleben dürfen, dass eine Frau ihn für sich geschafft hat. Wenn du selbst also an dem Punkt bist, wo du nicht mehr weiter weißt, dann zögere nicht länger, dir Hilfe zu holen. Adressen, Literaturtipps und Links findest du gleich hier. Mach dir keine Vorwürfe - zu nichts. Du warst nicht Schuld an dem, was passiert ist, und du hättest es auch nicht verhindern können. Du bist auch nicht Schuld an dem, was jetzt gerade in dir vielleicht an Stürmen tobt und hast jedes Recht, dich schlecht zu fühlen. Bagatellisiere das, was dir zugestoßen ist, nicht. Aber übernimm die Verantwortung für dich jetzt und hier: Such dir Hilfe. Du bist jetzt kein kleines, hilfloses Kind mehr. Lass dir Zeit bei der Auswahl der für dich passenden und stimmigen Hilfeform und bei der Auswahl deines/deiner TherapeutIn. Nutze alles für dich, was dir jetzt gut tun könnte. Und wenn die Stimme in dir, die sagt, dass das nie alles nie wieder aufhören wird, dass du das keinen Tag länger aushalten kannst und dass es keine Hoffnung für dich gibt, zu laut wird: Glaub ihr nicht. Wer hätte den größten Vorteil davon, wenn du dich vor die nächste S-Bahn wirfst? Der Täter. Gönn ihm diesen letzten Sieg nicht. Mach dich nicht unbewusst zu seiner Verbündeten. Wenn es sein muss und du es allein nicht mehr schaffst, geh in eine Klinik. Alles ist besser, als jetzt zu kapitulieren. Du hast das Schlimmste, das Unaushaltbare bereits ausgehalten und überlebt: den Missbrauch selbst. Du musst viel, sehr viel Lebenswillen und Kraft in dir tragen, sonst wärst du gar nicht bis hierhin und heute gekommen. Du schaffst auch den Rest. Aber mit ein bisschen Hilfe schaffst du ihn leichter.

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