Bloggen ist besser als Therapie ...



... dachte sich die sensible Macherin Nadine in Berlin gestern, und schrieb:
  1. Um zu einem Blog zu gelangen brauchst du keine Formulare und Anträge ausfüllen.
  2. Es gibt keine Wartezeiten bis zum Beginn eines Bloges.
  3. Vorberatungsgespräche entfallen.
  4. Es gibt keine Terminprobleme, dein Blog ist da wenn du ihn brauchst, egal zu welcher Uhrzeit.
  5. Du musst dich nicht für eine Therapieform entscheiden, bloggen kann man in der Gruppe, im eins zu eins Gespräch oder auch im liegen.
  6. Fahrtwege entfallen.
  7. Keine Kosten oder Praxisgebühren.
  8. Zwischenmenschliche Probleme wegen Äußerlichkeiten entfallen, - man sieht sich nicht.
  9. Wenn dir dein(e) TherapeutIn nicht passt kannst du schnell und problemlos wechseln.
  10. Du schreibst deinen eigenen Therapiereport und bleibst dabei anonym.
  11. Du kannst dir deine Selbsthilfegruppe selbst zusammenstellen.
  12. Falls dir mal ein Kommentar zu deiner Lage nicht gefällt, kannst du ihn einfach löschen.
  13. Es gibt keine minimal oder maximal Therapiedauer.


Ganz ähnliche Gedanken hatte ich übrigens auch gestern bei einem Spaziergang in der Frühlingssonne. Natürlich aus der anderen, sozusagen der Therapeutinnen-Perspektive! Und auch wenn in den Kommentaren zu Nadines Text darauf hingewiesen wurde, dass diese „Blog-Therapie“ den TherapeutInnen ja das Geschäft verderben würde und ich somit eigentlich gegen meine eigenen Interessen argumentiere: Ich finde, Nadine hat da ganz viel Wahres in lustiger Form zusammengefasst! Schließlich propagieren wir Therapeuten auf der ganzen Welt schon seit Jahr und Tag die heilsame Wirkung des Schreibens. Auch in meinem Blog wirst du schon des Öfteren auf Tipps und Anregungen gestoßen sein, die darauf basierten. Nicht umsonst schreiben so viele Menschen Tagebuch, gerade dann, wenn es ihnen mal nicht so gut geht. Der Begriff „sich etwas von der Seele schreiben“ ist alles andere als aus der Luft gegriffen. Beim Schreiben kann man die Gedanken sammeln, man merkt, was einem wichtig ist und was weniger, und was man erst einmal zu Papier gebracht hat, von dem kann man sich - schon rein körperlich - ein bisschen besser distanzieren. Das hat einerseits den Effekt, dass man mit ein wenig Abstand manche Sachen deutlicher wahrnimmt - also kann es klärend wirken - und andererseits den Effekt, dass man (besonders belastende) Dinge auch buchstäblich weglegen, wegpacken, wegschieben kann, indem man das Geschriebene selbst zur Seite legt - also kann es auch entlastend wirken. Ganz viele therapeutische Rituale setzen hier an: wenn man z. B. Dinge, von denen man sich verabschieden muss / möchte in schriftliche Form bringt und dann beispielsweise das Geschriebene verbrennt oder begräbt. Wer so etwas schon mal ausprobiert hat, hat vielleicht schon erlebt, wie wertvoll und hilfreich das sein kann, wenn es in stimmiger Form und zum richtigen Zeitpunkt passiert.

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Der wichtigste Punkt beim Schreiben ist vielleicht, dass es einen zur Selbstreflexion anhält. Letzten Endes stellt man sich - egal, ob man nun ein klassisches Tagebuch oder ein Blog führt - in regelmäßigen Abständen immer wieder bestimmte Fragen über sich selbst. Wer bin ich eigentlich? Wie geht es mir heute? Was war mir heute wichtig, was hat mich gefreut, was hat mich traurig gemacht? Warum ist/war das so? Will ich das so haben oder muss ich etwas ändern? Ist mein Leben so, wie ich es einmal werde wünschen gelebt zu haben? Das kann in eher ernster oder auch durchaus in lustiger Form stattfinden oder mal so und mal so - das spielt keine Rolle. Zentral ist nur, dass man sich selbst Zeit für sich nimmt - so ein Blog schreibt sich ja nicht von alleine! -, sich Gedanken über sich und seine Welt macht und nicht einfach nur so vor sich hinlebt. Ich denke oft, dass das eine ganz wichtige Qualität ist. Viele Menschen, die ich in Therapien kennen gelernt habe, sind das gar nicht gewöhnt: über sich selbst nachdenken, sich in Frage stellen, sich mit sich selbst auseinander setzen. Für solche Menschen ist es dann schrecklich anstrengend, wenn sie dann Fragen über sich selbst und ihr Innenleben in der Therapie beantworten sollen. „Darüber habe ich noch nie nachgedacht!“, bekomme ich dann oft zu hören. Oder: „Das weiß ich wirklich nicht!“ Manchmal hat man den Eindruck, die Menschen irren in ihrem Leben herum wie in einer ihnen unbekannten Stadt, zu der sie keinen Stadtplan haben. Ich glaube, den wenigsten Bloggern wird das passieren - zumindest den „persönlichen Bloggern“, die wie z. B. Nadine oder auch Singlemama und Chikatze nicht nur über ganz spezielle Themen bloggen, sondern einfach Tag für Tag aus ihrem Leben erzählen. Ich frage mich, ob allen dabei so bewusst ist wie Nadine, dass sie da eigentlich auch etwas ganz Großartiges für sich selbst tun, was bei weitem nicht jeder so kann.

Im Unterschied zum Tagebuch (das man ja nur für sich selbst schreibt und das oft auch sorgfältig abgeschlossen, versteckt und vor neugierigen Blicken gehütet wird) ist der Blog aber noch mehr: Man macht sich und seine Gedanken zu sich selbst öffentlich, stellt sich damit auch den Kommentaren und Gedanken der anderen. Nadine hat unter Punkt 11 - vielleicht nur halb scherzhaft - von der selbst zusammengestellten Selbsthilfegruppe gesprochen, und auch das finde ich einen wichtigen Aspekt. Oft ist es ja so, dass Menschen, die meinen Blog lesen und dort kommentieren, mit mir irgend etwas gemeinsam haben, auf der gleichen Wellenlänge sind wie ich selbst, vielleicht auch ähnliche Probleme, Sorgen oder Fragen an das Leben haben. Oder ganz im Gegenteil: ähnliche Probleme und schwierige Zeiten schon gut gemeistert haben bzw. an den gleichen Dingen Freude und Spaß haben wie ich selbst. Und auch das ist ja eine alte therapeutische Weisheit: dass die Gruppe oft „weiser“ ist als der Einzelne, und dass mit Unterstützung viele Dinge leichter zu bewältigen sind. Freilich, ein Risiko ist auch dabei, das auch etliche BloggerInnen schon erfahren haben. Setzt man sich in eine „echte“ Selbsthilfegruppe, darf man relativ sicher sein, dass entweder der Therapeut (sofern einer als Moderator dabei ist) oder die Gruppe selbst dafür sorgen wird, dass man in erster Linie Zuspruch und Hilfe erfährt. Störenfriede oder „Disser“ findet man in solchen Gruppen eigentlich nie - die sortieren sich selber blitzschnell aus. Im Netz ist das anders. Wenn ich in einem Blog Persönliches von mir preis gebe, laufe ich immer auch Gefahr, dass ein (meist anonymer) Kommentar vielleicht kränkend, unverschämt, beleidigend oder dergleichen ausfällt. So etwas kann, wenn es schlimm kommt, sehr verletzend sein, und der oder die BloggerIn ist dabei verhältnismäßig ungeschützt. Klar kann man, wie Nadine unter 12. schreibt, „einfach löschen“, aber ein bitterer Nachgeschmack kann bleiben, denn vom Bildschirm gelöscht ist nicht dasselbe wie aus der Seele gelöscht. Die emotionale Dynamik, die in einem Blog stecken kann, darf man einfach nicht unterschätzen. Das sollte man sich vielleicht ab und zu vergegenwärtigen - und im Netz einfach etwas vorsichtiger mit sich und den eigenen Gefühlen umgehen als im Schutzraum einer „echten“ Therapie. Aber die meisten BloggerInnen haben wohl ein recht gutes Gespür dafür, wie sie diesem Problem begegnen, und dann überwiegen die Vorteile des Feedbacks aus den Kommentaren sicher die Nachteile.

Einen anderen Punkt hat Nadine in ihrer Liste zu den Blogs nicht erwähnt, zu Recht natürlich, denn „eigentlich“ ist es kein offizieller Therapiepunkt. Trotzdem hat er sicher für viele einen hohen Stellenwert, und so manche/r meiner/r KlientInnen im wirklichen Leben wären froh, wenn sie von seinen positiven Effekten profitieren könnten. Ich meine die Kontakte und Freundschaften, die durch Blogs entstehen (ganz unabhängig vom „Selbsthilfeaspekt“, einfach, weil man sich sympathisch findet und mag). Auf keine andere Art kann man so schnell so viele interessante Menschen kennen lernen - und gut kennen lernen! Gerade in unseren Zeiten der (oftmals erzwungenen) Mobilität und der sozialen Vereinzelung finde ich das einen kaum zu unterschätzenden Vorteil des Bloggens. Von Frank Lachmann (argh.de) stammt das Zitat, dass Blogs die „passive Suche nach ähnlich tickenden Menschen“ seien. Und Felix Schwenzel hat Blogs mal als die „längsten Kontaktanzeigen der Welt“ bezeichnet - einfach, weil man auf diesem Weg schnell und leicht Gleichgesinnte und Gleichinteressierte finden kann, mit denen man sich wohl fühlt. „Wenn man sich früher für Schach interessiert hat, ging man zum örtlichen Schachclub. Wenn man sich für Plastikstühle interessierte, war man allein. Heute schaut man sich um und findet natürlich auch ein Blog über Plastikstühle.“, schreiben Holm Friebe und Sascha Lobo sehr richtig. Und das ist doch eine tolle Sache oder?

Ganz klar, es gibt ein paar Dinge, die die „echte“ Therapie leisten kann, mit denen jeder Blog überfordert wäre. Zum Glück für meinen Berufsstand ;-) ! Trotzdem finde ich das Phänomen Bloggen - auch wenn es hierzulande noch vergleichsweise in den Kinderschuhen steckt und entsprechend an ein paar Kinderkrankheiten zu leiden hat - eine ganz hervorragende Angelegenheit in Sachen Selbsterkenntnis und Kontaktpflege. Mal ganz abgesehen vom Spaßfaktor.

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