Kann man ein Trauma vererben?



Missbrauch der Mutter kann Autismus-Risiko ihrer Kinder erhöhen“ lautete die Überschrift eines Spiegel-Online-Artikels vergangene Woche. Eine amerikanische Studie an mehr als 50.000 Frauen hatte diesen merkwürdigen Zusammenhang kürzlich zutage gefördert: Wurde eine Frau als Kind Opfer von schwerem sexuellen Missbrauch, ist die Gefahr, dass sie als Erwachsene später ein Kind zur Welt bringt, das unter Autismus leidet, dadurch um mehr als 60 % (!) im Vergleich zu einer nicht-traumatisierten Frau erhöht. "Unsere Untersuchung legt nahe, dass die Auswirkungen von Missbrauch während der Kindheit über die Generationen hinweg reichen", wird der an der Studie beteiligte Wissenschaftler Marc Weisskopf im Spiegel-Artikel zitiert. Als mögliche Ursachen dafür ziehen die Forscher derzeit die Schwächung des Immunsystems und der Stressresistenz bei missbrauchten Frauen heran, die sich dann ungünstig auf die Schwangerschaft und die Entwicklung des Embryos auswirken könnten.

Ich fand die Ergebnisse der Studie sehr interessant - überraschend allerdings eigentlich nicht wirklich. Für mich fügt sie sich auf den ersten Blick sofort logisch ein in eine Reihe von Forschungsergebnissen zum Thema Trauma und Vererbung, die seit einigen Jahren für ein Umdenken auch in der Psychotraumatologie sorgt. Das Schlüsselwort dabei ist Epigenetik. Kurz zusammengefasst ist das eine Forschungsrichtung, die sich mit den Auswirkungen von Umwelteinflüssen auf die Aktivität unserer Gene beschäftigt - und auf die unserer Nachkommen. Seit 150 Jahren ging die Evolutionslehre davon aus, dass Umwelteinflüsse und persönliche Erfahrungen nur einen Effekt auf das Individuum haben können, nicht aber vererbbar sind. Weitergegeben an die Nachkommen, so dachte man, werden nur die genetische Ausstattung der Eltern und die damit verbundenen Eigenschaften (also z. B. Augen- oder Haarfarbe), aber keine Eigenschaften, die erst durch Lebenserfahrungen in der Elterngenerationen erworben wurden (also z. B. eine besondere Ängstlichkeit aufgrund von Traumatisierung). Diese Überzeugung wird durch die Forschungsergebnisse der Epigenetik nun zunehmend erschüttert.

Ein Beispiel aus dem Labor: Wissenschaftler der Universität Zürich trennten neu geborene Mäuse vorzeitig von ihren Müttern und gaben ihnen nur gerade so viel Nahrung, dass sie überleben konnten. Die armen, im Dienst der Wissenschaft derart gepiesackten Tierchen, zeigten - wen wundert‘s - im Erwachsenenalter Verhaltensstörungen, sie waren ängstlicher und depressiver als ihre normal aufgewachsenen Altersgenossen. Aber - und das ist das eigentlich Erstaunliche - nicht nur die malträtierte Mäusegeneration selbst zeigte besagte Verhaltensdefizite, sondern sie vererbte ihre höhere Ängstlichkeit und Depressivität auch an ihre Kinder! Obwohl diese verwöhnt und gepäppelt wurden und durchweg nur ausgezeichnetes Futter und Pflege bekamen, waren sie genauso ängstlich und depressiv wie ihre Eltern. Noch die Urenkel der ursprünglichen Versuchsmäusekinder zeigten erhöhte Angstwerte. Das Trauma der Ahnen wurde also weitervererbt.

Wie das funktioniert, damit beschäftigen sich Epigenetiker. Der Mechanismus ist ein wenig kompliziert; sehr verkürzt gesagt ist es so, dass einzelne Gene offenbar biochemisch durch Dinge wie Umweltfaktoren, Ernährung und persönliche Erfahrung aktiviert und deaktiviert werden können. Salopp gesagt gibt es so etwas wie einen „Ein/Aus“-Schalter an Genen, der dabei gedrückt wird. Der genetische Code an sich verändert sich zwar dadurch nicht, aber das epigenetische Muster insgesamt sehr wohl. Besonders stark wirken diese Einflüsse ab der frühen Embryonalentwicklung bis hinein in die Pubertät. Mit zunehmendem Lebensalter wird das epigenetische Muster veränderungsresistenter, d. h. die Einflüsse müssen heftiger und stärker sein, um einen Effekt zu zeitigen. Grundsätzlich bleibt das Muster aber lebenslang veränderbar.

Diese epigenetischen Veränderungen beeinflussen dann in der Folge z. B. die Entstehung von Krankheiten. Gut belegt ist das zum Beispiel bei Krebserkrankungen, aber auch für psychische Störungen lassen sich solche Zusammenhänge nachweisen (an einer kanadischen Universität konnten Wissenschaftler z. B. den Einfluss von epigenetischen Veränderungen auf die Entstehung von schweren Depressionen und Suizidalität belegen). Und wie die eingangs genannten Tierversuche zeigen, wirkt dieser Einfluss dann nicht nur in der eigentlich betroffenen Generation, sondern auch in den darauf folgenden Generationen weiter - er wird an die Nachkommen vererbt.

Nun kann man Menschen natürlich nicht in Versuchslabore stecken und mit Nahrungs- und Kontaktentzug traktieren, um zu prüfen, ob das, was bei Mäusen funktioniert, auch so auf uns zutrifft. Aber man kann Langzeitstudien über Jahre und Jahrzehnte hin erstellen und in großen, ohnehin erhobenen Datenmengen nach vergleichbaren Zusammenhängen forschen. So geschehen zum Beispiel an der Universität Bristol, wo man herausfand, dass es einen Einfluss auf das Körpergewicht von Kindern hat, wenn deren Väter schon vor dem elften Lebensjahr mit dem Rauchen angefangen hatten: Die Söhne dieser Väter waren später überdurchschnittlich dick. Auf weibliche Nachkommen dagegen schien die Qualmerei der Väter keinen vergleichbaren Einfluss zu haben. Ein erster Hinweis darauf, dass die Umwelteffekte nicht nur genetisch an die Nachkommen weitergegeben werden, sondern sogar geschlechtsspezifisch weitergegeben werden!

Untermauert wurde dieser Hinweis vom selben Forschungsteam noch einmal anhand einer besonderen Datenmenge: Die Geburts- und Todesdaten sowie Informationen über bestimmte Erkrankungen von drei Generationen einer im Norden Schwedens gelegenen Region wurden dafür herangezogen. Es zeigte sich ein interessantes Muster: Litten die Jungs dieser Region zwischen ihrem 9. und 11. Lebensjahr aufgrund einer schlechten Versorgungslage Hunger (genau dem Alter, in dem ihre Spermien zu reifen begannen), erkrankten ihre männlichen Enkel später deutlich seltener an Diabetes als der Durchschnitt der Bevölkerung. Enkel dagegen, deren Großväter in der Kindheit nie hungerten, starben später überdurchschnittlich häufiger an Schlaganfällen und anderen Gefäßerkrankungen. Auch die Großmütter vererbten ihre Hunger- bzw. Nicht-Hunger-Erfahrung in dieser Form an ihre Enkel weiter - allerdings nur an ihre Enkelinnen.

Traumatische Erfahrungen wie Hunger oder sexueller Missbrauch graben sich also ganz offensichtlich nicht nur in unsere Erinnerung und unsere Seele ein, sondern auch in unser genetisches Erbmaterial. Und beeinflussen auf diese Weise dann nicht nur unser eigenes Leben, unsere Gesundheit und unsere eigene Persönlichkeit, sondern auch noch die unserer Kinder und Kindeskinder. Eine erschreckende Erkenntnis - und gleichzeitig ein ungemein spannender neuer Ansatz für therapeutische Interventionen. Die Epigenetik steckt im Vergleich zu anderen Forschungszweigen heute natürlich noch in den Kinderschuhen. Aber es bleibt zu hoffen, dass spätere Generationen vielleicht einen ganz anderen Blick auf viele psychische und physische Störungen und Erkrankungen werfen können, deren Herkunft für uns heute noch unter „ungeklärt“ fällt. Heute suchen wir die Wurzel von Problemen wie Depressionen, Süchten, Autismus oder anderen psychischen Erkrankungen in erster Linie im Leben eines Betroffenen selbst, allerhöchstens noch in seinem direkten familiären und sozialen Umfeld. Aber vielleicht greift dieser Ansatz ja oft einfach zu kurz. Vielleicht müssen wir unseren Blick ja noch ein ganzes Stück weiter zurück in die Vergangenheit richten, um die Entstehung vieler dieser Erkrankungen wirklich zu begreifen?

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