Frauen und Depression



In der September-Ausgabe der Zeitschrift „Psychologie Heute“ ist ein sehr interessanter Auszug aus dem aktuellen Buch der von mir sehr geschätzten Autorin Ursula Nuber zu lesen. Seine Überschrift: „Das Beziehungsdefizitsyndrom - Warum Frauen depressiv werden und Männer nicht wirklich daran schuld sind“.

Dass weltweit doppelt so viele Frauen wie Männer an Depressionen erkranken, ist seit langem bekannt. Und fast ebenso lange wird darüber spekuliert, was mögliche Ursachen für diese Ungleichverteilung zwischen den Geschlechtern sein könnten. Im Gespräch sind dabei eine größere Bereitschaft von Frauen, über psychische Probleme zu reden (und damit auch eher als depressiv diagnostiziert zu werden), hormonelle Unregelmäßigkeiten (Stichwort PMS oder Wechseljahre) oder auch eine erhöhte Neigung von Frauen, sich selbst zu hinterfragen und sich damit in unfruchtbaren Grübelschleifen zu verfangen. Alles sehr richtig, alles sehr einleuchtend, aber ich finde den Erklärungsansatz, auf den Ursula Nuber den Scheinwerfer in ihrem Buch richtet, eigentlich sehr viel spannender, nämlich: Die stärkere Beziehungsorientierung von Frauen als Stress- (und langfristig Depressions-)auslöser.

Frauen, das ist eine psychologische Binsenweisheit, die den meisten meiner regelmäßigen Leserinnen und Lesern bekannt sein dürfte, gelten gemeinhin als sehr viel beziehungsorientierter als Männer. Unter anderem drückt sich das in ihrem Kommunikationsverhalten aus, wie schon Deborah Tannen in ihrem Klassiker „Du kannst mich einfach nicht verstehen!“ analysierte: In Männergesprächen geht es vor allem um den Austausch von Sachinformationen und das Abklären von Status. Frauengespräche dagegen dienen vor allem der Herstellung und Bestätigung von Beziehung. Darum wollen wir abends mit unserem Liebsten bei einem Glas Rotwein plaudern (während der eigentlich lieber in Ruhe die Sportschau gucken möchte, weil es ja eigentlich gerade nichts wirklich Wichtiges oder Neues zu erzählen gibt). Und deswegen führen wir auch so gerne endlose Latte-Macchiato-Gespräche mit unseren Freundinnen, bei denen der Mann am Nebentisch verwundert den Kopf schüttelt, weil ihr reiner Informationsgehalt gegen Null tendiert. Aber darum geht es bei all diesen Gesprächen nicht. Es geht darum, Gemeinsamkeit zu spüren, sich gegenseitig zu unterstützen, Gefühle zu teilen, sich zugehörig zu fühlen, in Beziehung zu sein. Das ist für uns Frauen nun mal das Höchste.

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Schön, wenn dabei alles gut läuft. Nicht so schön, wenn irgendwelche Probleme in unseren Beziehungen auftauchen. Nuber zitiert in ihrem Artikel eine Stressstudie des Psychologen David Almeida, der darin feststellt: „Im Beruf erleben Männer und Frauen zwar vergleichbaren Stress, doch Männer fühlen sich sehr viel weniger belastet von Problemen ihrer Freunde oder Verwandten.“ Wir Frauen dagegen sind ruck-zuck in einer unguten Doppelbelastung gefangen, die uns das Leben schwer macht. Während unser Partner am Morgen ins Büro entschwindet und dabei keinen Gedanken an seine alzheimerkranke Mutter, den gerade arbeitslos gewordenen besten Freund, die Kusine, bei der Brustkrebs diagnostiziert wurde und den Ehekrach vom vergangenen Abend verschwendet, verfolgen uns diese (Beziehungs-)Stressoren rund um die Uhr weiterhin. Wir leiden, so das Fazit der Studie, stärker als Männer unter Störungen in unseren sozialen Beziehungen und machen die Probleme anderer, uns nahe Stehender auch gern zu unseren eigenen. „In unglücklichen Ehen“, schreibt Ursula Nuber, „ist es für Frauen dreimal so wahrscheinlich, depressiv zu werden, wie für Männer, und fast die Hälfte aller Frauen in unglücklichen Ehen ist depressiv.“ Wieso sind (gelingende) Beziehungen offensichtlich nur so viel wichtiger für uns, als für Männer? Wieso können wir gefühlsmäßig nicht autonomer (und damit unbelasteter) durchs Leben gehen?

Der Unterschied in der Beziehungsorientierung von Frauen und Männern zeigt sich schon sehr früh, führt Nuber weiter aus. Sie zitiert unterschiedliche Studien, die belegen, dass Mädchen bereits ab dem Kindergartenalter empathischer reagieren, sich stärker in andere hineinversetzen, sich um Hilfsbedürftige kümmern und Rücksicht auf andere nehmen. Jungs dagegen beginnen ebenso früh, Strategien zu entwickeln, wie sie andere dominieren (z. B. indem sie sie beim Reden unterbrechen, ihnen drohen oder direkte Anweisungen erteilen) und ihre Interessen auch gegen deren Willen durchsetzen können. Bereits in diesem jugendlichen Alter entsteht hier also ein drastisches Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern in Sachen Beziehungsorientierung: Mädchen zeigen mehr Beziehungsachtsamkeit, für sie haben (gelingende) Beziehungen einen hohen Stellenwert, auch im Hinblick auf ihren Selbstwert. Für Jungs dagegen steht Abgrenzung und Durchsetzungsvermögen an erster Stelle, wenn die Beziehung darunter leidet, dann nehmen sie das als notwendige Nebenwirkung hin - tant pis! -, ohne sich davon bedroht zu fühlen.

Als mögliche Erklärung für diese Diskrepanz in der Beziehungsorientierung schon in jungen Jahren zieht Ursula Nuber die unterschiedlichen Erfahrungen in der Mutter-Kind-Beziehung heran, die Jungen und Mädchen machen: „Für Söhne besteht die Herausforderung darin, sich aus der engen Beziehung zur Mutter zu lösen und sich mit dem Vater (oder einer Vaterfigur) zu identifizieren. Mädchen dagegen brauchen sich nicht von der Mutter zu trennen, um ihre Geschlechtsidentität zu finden. (..) Während Söhne die Nähe und enge Bindung an die Mutter aufgeben müssen, wird dieser schwierige Schritt von Mädchen nicht verlangt, jedenfalls nicht so früh und nicht so radikal. Die Identitätsentwicklung von Mädchen ist nicht von der gelungenen Ablösung von der Mutter abhängig, sie finden ihre Identität innerhalb der Bindung an die Mutter. Mädchen entwickeln ein ,Beziehungsselbst‘, für Jungs sind Unabhängigkeit und Eigenständigkeit bedeutsam für die Entwicklung eines ,autonomen Selbst‘.“ Und so wachsen da nebeneinander zwei Geschlechter heran, die in Sachen Bindung und Beziehung vollkommen andere „Schablonen“ und Lebensentwürfe entwickeln: Frauen, für die intime Bindung und Beziehung leicht herstellbar und existenziell notwendig, und Männer, für die intime Bindung und Beziehung oft nur schwer lebbar, manchmal sogar selbstwertbedrohlich ist.

Beides hat seine Vorteile - und für beides zahlt man einen Preis, so sieht es Ursula Nuber. Die Männer tun sich mit ihrem „Beziehungsdefizitsyndrom“ in einer Gesellschaft, in der Ellenbogenmentalität und Selbst-Autonomie gern gesehen werden und Erfolg und Anerkennung versprechen, im Alltag in der Regel sehr viel leichter als die Frauen. Sie sind - so nennen es die amerikanischen Psychologen Betcher und Pollack - „Spezialisten für Selbständigkeit“: emotional unabhängiger, in ihrem Selbstwertgefühl weniger leicht angreifbar und durchsetzungsstärker als Frauen. Das macht es ihnen aber auch schwerer, mit (eigenen und fremden) Gefühlen umzugehen, sich im Bedarfsfall Hilfe zu suchen und sich einer wirklich intimen Beziehung ganz zu öffnen. Manche Psychologen bringen die erhöhten Raten von schulischen und Verhaltensproblemen bei Jungen mit diesem „Beziehungsdefizitsyndrom“ ebenso in Verbindung wie spätere Drogen-, Gewalt- und Alkoholexzesse bei Männern - Versuche der Kompensation und Selbstmedikation angesichts mangelnder anderer Strategien, mit belastenden Emotionen umzugehen.

Frauen haben dagegen keine Schwierigkeiten, Einfühlung zu zeigen, Nähe zuzulassen und über eigene Probleme mit anderen zu sprechen. Einerseits gut für sie - andererseits bringen sie diese Qualitäten aber in einer Gesellschaft, die das autonome, durchsetzungsstarke Individuum favorisiert, selten weiter. Im Gegenteil: Häufig erleben sie, dass ihr Beziehungsselbst eher abgelehnt wird oder ihnen in irgendeiner Hinsicht im Wege steht - was wiederum dazu führt, dass sie ihre eigene Beziehungsorientierung abzuwerten und als Schwäche, als Defizit wahrzunehmen beginnen, nicht mehr als Qualität und besondere Stärke.

Wenn nun in einer heterosexuellen Beziehung eine „Spezialistin für Beziehungen“ (Betcher/Pollack) und ein „Spezialist für Selbständigkeit“ aufeinandertreffen, sind die Probleme und gegenseitigen Enttäuschungen selbstverständlich geradezu vorprogrammiert. Die Frau fühlt sich von ihrem Partner unverstanden, nicht wirklich wahrgenommen und allein gelassen; der Mann fühlt sich von der Bindungssehnsucht und dem Nähebedürfnis seiner Partnerin überfordert und bedrängt. Während er aber mit dieser Beziehungsstörung dank seiner größeren Autonomie vergleichsweise noch ganz gut zurecht kommt, ist das Risiko für sie, angesichts ihrer permanent frustrierten Bindungsorientierung depressiv zu werden, natürlich riesig.

Und was ist nun der Ausweg aus diesem Dilemma, den Ursula Nuber vorschlägt? Derselbe, den wir auf iPersonic immer wieder zu beschwören versuchen, sei es nun in unseren eBooks zum Thema Partnerschaft meinem aktuellen Buch „Fremdenverkehr“ oder in zahllosen Blog-Artikeln rund um die Liebe: Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern erkennen, akzeptieren und damit auch die unterschiedlichen Bedürfnisse von Männern und Frauen in Beziehungen anerkennen. „Die Psychologen Betcher und Pollack meinen: ,Eine Versöhnung des Bedürfnisses nach Beziehung mit dem Bedürfnis nach Autonomie wird erst dann möglich, wenn Männer und Frauen einsehen, dass sie Beziehungen auf ganz unterschiedliche Weise erleben, was an ihren jeweiligen Entwicklungswegen liegt‘“, erklärt Ursula Nuber. Und wenn man als Frau das erst einmal eingesehen hat, dann kann man auch das hübsche spanische Sprichwort beherzigen, das empfiehlt: „No le pidas peras al olmo!“ - „Wünsch dir von einer Ulme besser keine Birnen!“ Man kann aufhören, den Partner anzuklagen, weil er einem nicht gibt, was man braucht und aufhören zu glauben, dass er das nur aus Böswilligkeit nicht tut. Und sich sich stattdessen mal umschauen, was es in der eigenen Umgebung - außer dem Partner - noch so alles an Energie-, Unterstützungs- und Zuwendungsquellen gibt, die die Bedürfnisse des weiblichen Beziehungsselbsts befriedigen können. Das tut dann nicht nur uns selbst gut, sondern auch der Partnerschaft. Weil sich so eine Ulme, die dauernd dafür beschimpft und schief angesehen wird, dass sie keine Birnen trägt, auf Dauer nämlich auch nicht wirklich wohl fühlt, egal wie autonom sie ist ...

Buchtipp: Ursula Nuber: Wer bin ich ohne dich? - Warum Frauen depressiv werden - und wie sie zu sich selbst finden.

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