Die große Wegkreuzung



Eine Volksweisheit sagt: An den Kreuzungen des Lebens stehen keine Wegweiser. Daran muss ich oft denken, wenn ich in meiner Praxis Menschen gegenübersitze, die vor wichtigen Entscheidungen in ihrem Leben stehen und einfach nicht wissen, welchen Weg sie einschlagen sollen. Und natürlich auch dann, wenn ich selbst in der gleichen Situation bin. Wir alle finden uns - früher oder später, mehr oder weniger oft - immer wieder an solchen Kreuzungen im Leben wieder, an denen wir uns für eine Möglichkeit entscheiden und damit von anderen Alternativen gleichzeitig verabschieden müssen. Den Job wechseln oder lieber nicht? Die Beziehung weiterführen oder einen Schlussstrich ziehen? Ins Ausland gehen oder lieber in Deutschland bleiben? Ein Kind bekommen oder doch nicht? Welche Ausbildung, welches Studium wählen? Und .. und .. und ...

Manche dieser Entscheidungen sind schwer wiegender als andere, manche - wie zum Beispiel die für oder gegen ein Kind - sogar nicht mehr korrigierbar (zumindest ab einem bestimmten Zeitpunkt). Das macht natürlich Angst: Was, wenn wir uns falsch entscheiden? Wenn wir dadurch wesentliche Chancen verspielen, unser ganzes restliches Leben vielleicht bedauern, dass wir uns so und nicht anders entschieden haben? Und was, wenn der Kopf für eine Möglichkeit plädiert, das Herz sich aber dagegen wehrt? Manchmal ist die Furcht vor einer Fehlentscheidung so groß, dass sie auf uns die Wirkung der Schlange auf das Kaninchen hat - wir tun gar nichts mehr. Schreckensstarr sitzen wir dann auf unserer Kreuzung, bewegen uns nicht vorwärts, nicht rückwärts, nicht seitwärts.

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Dass das in jedem Fall die schlechteste aller Möglichkeiten ist, versuche ich manchmal mir selbst und auch Klienten mit meinem Lieblingsmärchen nahe zu bringen. Geschrieben wurde es von Roland Kübler; finden kann man es in ganzer Länge - neben vielen anderen schönen Geschichten - in dem Buch „Die Farben der Wirklichkeit“, erschienen im lucy körner verlag.

Nachfolgend eine von mir etwas gekürzte Version:

„Hoch oben in den Bergen wuchs ein Kind auf. Spielte sich in klarer Luft und auf sattgrünen Wiesen zur jungen Frau. Eines Tages packte die junge Frau ihr kleines Bündel und sagte zu Vater und Mutter, dass sie gehen wolle, um das Meer zu sehen. Denn während ihrer ganzen Jugend hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als einmal im Leben ihren Körper in das schäumende Meerwasser zu legen und auf den Lippen den salzig frischen Atem des Meeres spüren zu können.

Die junge Frau ging den vertrauten Weg hinab ins Tal. Sie ging weiter, als sie je gegangen war, weil sie ein Ziel hatte. Oft wurde sie eingeladen, doch ein wenig auszuruhen, und manchmal wurde ihr auch abgeraten, weiter zu gehen. Der Weg zum Meer sei zu weit und beschwerlich, wurde ihr gesagt. Aber sie ließ sich nicht beirren und ging weiter den Weg, den sie für sich gewählt hatte, der sie zum Meer führen sollte.

Eines Tages kam sie an eine große Wegkreuzung. Der Weg gabelte sich vor einem großen Gebirge in vier Pfade, von denen zwei links und zwei rechts um die Berge herumzuführen schienen. Die junge Frau wusste nicht weiter und setzte sich mitten auf die Wegkreuzung, um zu rasten. So saß sie lange Zeit auf der Erde und konnte sich für keinen der vier Wege entscheiden. Jeder schien ihr ungewiss.

Immer wieder kamen auch andere Menschen an ihrer Wegkreuzung vorbei, die sie einluden, mit ihnen zu kommen. Eine Gruppe von Reisenden schlug ihr vor, sie in eine große Stadt zu begleiten, die nur wenige Stunden von der Kreuzung entfernt sei. Doch die Frau lehnte dankend ab, denn sie wollte nicht in eine Stadt, sondern ans Meer. Ein einsamer Wanderer leistete ihr lange Zeit Gesellschaft an ihrer Wegkreuzung, teilte mit ihr sein Brot und seinen Wein und erzählte ihr aus seinem Leben. Auch er bat sie schließlich, mit ihm zu kommen. Er war auf dem Weg in einen nahe gelegenen Wald, um dort zu jagen. Die Frau dankte auch ihm für sein Angebot, sagte aber, dass sie ans Meer und nicht in einen Wald wolle.

Die Wochen vergingen, und mit ihnen wechselten die Jahreszeiten. Als die Frau schon sehr lange an der Kreuzung gesessen hatte, schwand ihre Zuversicht ein bisschen, und sie fühlte sich einsam. So nahm sie das Angebot vorbeiziehender Bauern an, diese in ihr Dorf zu begleiten und dort bei der Ernte zu helfen. Es gefiel ihr gut bei den Bauern, und sie blieb den ganzen Winter über. Als aber der Frühling kam, erwachte ihre Sehnsucht nach dem Meer erneut; sie packte ihr Bündel und ging zurück zu ihrer Wegkreuzung. Wieder saß sie dort sehr lange, bis schließlich eine vorbei kommende Frau sie fragte, ob sie ihr vielleicht helfen wolle, im nächsten Dorf ihre Waren zu verkaufen und Hemden zu schneidern. Für eine Zeit machte ihr auch dies große Freude, und sie blieb eine ganze Weile mit der Frau in dem kleinen Dorf. Doch schließlich wurde die Sehnsucht nach dem Meer wieder übermächtig, so dass sie sich von der Frau verabschiedete und an ihre Wegkreuzung zurückkehrte. Lange, lange saß sie wieder dort und fragte sich, welcher Weg sie an ihr Ziel bringen würde. Manchmal glaubte sie, in stillen, schlaflosen, mondhellen Nächten ein leises, fernes Rauschen zu hören, als ob das Meer sie rufen würde.

Es war eine solche Nacht, als sie sich entschloss, einfach die Berge hinaufzusteigen. Die Wanderung war sehr beschwerlich. Durch beängstigend verwirrende Felsengärten, dichtes Unterholz und über steil abfallende Grate führte ihr Weg nach oben. Höher und höher stieg sie bei ihrer einsamen Wanderung. Manchmal glaubte sie auch, ihre Kraft würde nicht ausreichen.

Und dann endlich stand die Frau ganz oben. Der Ausblick überwältigte sie. Tief unten entdeckte sie, ganz klein jetzt, die Wegkreuzung, auf der sie so lange gesessen hatte. Sie sah die vier Pfade, die sich dort unten verzweigten. Der eine führte in eine große Stadt und darüber hinaus. Der andere schlängelte sich durch einen dichten Wald zu einem kleinen Häuschen, aber auch er endete dort nicht. Der dritte wand sich durch das Tal bis zu den Bauern, denen sie bei der Ernte geholfen hatte, kletterte dann über einige Hügel und führte weiter in eine fruchtbare Ebene. Und der vierte traf auf das kleine Dorf, in dem sie Hemden geschneidert hatte, und zog dann weiter.

Die Frau stand auf dem Gipfel des Berges und zitterte. Die vier Wege trennten sich vor dem Gebirge, umringten es und näherten sich einander in einer weiten Ebene, vereinigten sich und setzten ihre Reise fort bis zum Meer. Je länger sie schaute, um so deutlicher glaubte sie das schäumende Wasser zu sehen. Aber die Frau war inzwischen alt geworden, ihr Haar dünn und grau und ihr Rücken gebeugt. Sie hatte nicht mehr die Kraft, zurückzugehen an jene große Wegkreuzung, wo sie so lange gesessen hatte. Zurück, um irgendeinen Weg zu wählen, der sie ans Meer bringen würde. Sie hatte keinen der Wege gewählt, war keinen bis zum Ende gegangen. Erst hier, hoch oben auf den Felsen, erkannte sie, dass jeder dieser Wege ans Meer geführt hätte. Und plötzlich wusste sie: Niemals in ihrem Leben würde der salzig frische Atem grenzenloser Weite ihre Lippen netzen. Und niemals in ihrem Leben würde sie das wildschäumende Wasser des Meeres auf ihrem Körper spüren.“


Vielleicht hilft auch dir diese Geschichte irgendwann einmal, wenn du wieder an einer Wegkreuzung angelangt bist und nicht weiter weißt. Hab dann ein bisschen Vertrauen ins Leben und in dich selbst - und darauf, dass jeder der Wege irgendwie ans Meer führen wird.

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