Warum Frauen eine verzerrte Selbstwahrnehmung haben



Es ist schon eine Weile her, seit ich das letzte Mal hier auf iPersonic über das Thema „Blinder Fleck“ geschrieben habe. Das Thema kam mir aber gestern wieder einmal in den Sinn, und zwar aus ganz persönlichem aktuellem Anlass. Ich war, wie man so schön sagt, offensichtlich mit dem falschen Fuß aufgestanden - solche Tage haben wir ja alle zwischendurch mal. Ich hatte nicht besonders gut geschlafen, mir lagen ein paar Dinge auf der Seele, und entsprechend verknautscht fand ich auch gleich beim Zähneputzen mein Spiegelbild über dem Waschbecken. Augenringe, eindeutig mehr Falten als gestern noch und was war das für ein komischer kleiner neuer Pigmentfleck rechts von der Nase - ging es etwa jetzt schon los mit Altersflecken bei mir? Und dann machte ich auch noch den dümmsten strategischen Fehler, den frau in so einer Situation überhaupt machen kann: ich stellte mich auf die Waage! Damit war der Tag eigentlich gelaufen; am liebsten hätte ich mich gleich wieder ins Bett gelegt. Meine ohnehin schon mäßige Laune schlug kurz vor dem absoluten Nullpunkt auf und richtete sich dort häuslich ein.

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Lustlos fuhr ich den Computer hoch und überlegte, ob ich in der Stimmung überhaupt irgendwas Anständige arbeiten können würde oder ob ich den Tag vielleicht besser gleich abhaken sollte. Halbherzig surfte ich auf Facebook herum - und stolperte über einen Link zu einem Video, den eine Journalistin dort geposted hatte: Dove Real Beauty Sketches.

Das Szenario ist schnell erzählt, und natürlich ist es letzten Endes ein Werbefilm von Dove, aber (wieder einmal) ein richtig guter: Die Firma greift darin die Tatsache auf, dass die allermeisten Frauen selbst ihre strengsten Kritiker in Sachen Aussehen sind. Nur 4 % aller Frauen weltweit bezeichnen sich in Umfragen als „schön“; alle anderen haben etwas an sich herumzumäkeln: zu dick, zu dünn, zu groß, zu wenig Busen, zu viel Busen, zu dünnes Haar, zu kleine Augen ... you name it. Während ihre Umwelt von diesen vermeintlichen Makeln gar nichts wahrnimmt, oder selbst wenn, diese dann doch erheblich unbedeutender findet als die befragte Frau selbst. Aber da kann man an uns Frauen ja hinreden wie an einen lahmen Esel - auf dem Ohr sind wir alle scheinbar taub. Wir schauen in den Spiegel und sehen unsere vermeintlich zu große Nase und sonst nichts mehr. Oder die eine Falte mehr. Oder den komischen kleinen neuen Pigmentfleck ... Das fängt spätestens in der Pubertät an, meist schon viel früher. Unmöglich, mit dem Riesenpickel auf der Stirn auf die Fete zu gehen, schluchzt man da ins Handtuch. Während die eigene Mutter einen verständnislos anschaut und fragt: „Pickel? Welcher Pickel?“

Um diese oft extreme Diskrepanz zwischen der Selbst- und der Fremdwahrnehmung in Sachen Aussehen gerade bei Frauen sichtbar zu machen, hat sich die Firma Dove ein cleveres Setting zurechtgelegt: Ein Phantombildzeichner wird angeheuert und in einem Raum platziert. Dann werden verschiedene Frauen in denselben Raum geschickt, allerdings in einen von ihm durch einen Vorhang getrennten Bereich - er kann mit ihnen sprechen, aber sie nicht sehen und umgekehrt sie ihn auch nicht. Die Frauen sollen ihm nun ihr eigenes Gesicht so genau wie möglich beschreiben, damit er sie zeichnen kann - so, wie man es bei einer Zeugenaussage tun würde, um ein Phantombild zu erstellen. Das tun sie auch gewissenhaft, und der Zeichner setzt ihre Anweisungen wortgetreu um. „Mein Kinn steht ziemlich weit vor, vor allem wenn ich lächle ...“ - „Meine Mutter hat immer gesagt, ich hätte einen sehr großen Kiefer ...“ - „Ich habe ein ziemlich rundes, eher dickliches Gesicht ...“ - „Je älter ich werde, desto mehr Sommersprossen kriege ich ...“

Und dann kommt der zweite Teil: In dem müssen die Frauen dem Zeichner noch ein Gesicht beschreiben, aber nicht ihr eigenes, sondern jeweils das einer der anderen Frauen aus dem Experiment. Die Beschreibungen fallen ganz anders aus: „Sie war schlank, man konnte ihre Wangenknochen gut sehen. Ihr Kinn war hübsch und zierlich.“ - „Sie hatte hübsche Augen; sehr hübsche blaue Augen.“ - „Sie hatte eine hübsche Nase.“ Am Ende des Experiments hat der Zeichner also von jeder beteiligten Frau zwei Phantombilder gezeichnet: einmal eines nach ihren eigenen Anweisungen und einmal eines nach der Beschreibung einer ihr sonst völlig Fremden. Die beiden Bilder werden nun nebeneinander aufgehängt und den Frauen gezeigt.

Kannst du schon erraten, worin der Unterschied zwischen den Bildern besteht? Richtig - die Bilder, die nach der Beschreibung der jeweils Fremden von den Frauen angefertigt wurden, fallen sehr viel hübscher aus als die, die der Zeichner nach den Eigenangaben der Frauen gezeichnet hat. Und nicht nur das - wenn man aus den Bildern jeweils das auswählen müsste, das die Frauen realistischer wiedergibt (also bei einer Rasterfahndung die höhere Trefferquote erzielen würde), müsste man sich auch jedes Mal für das Bild aus den Fremdangaben entscheiden! In den Bildern, die nach den eigenen Angaben der Frauen gezeichnet wurden, erkennt man als Außenstehender manchmal nur mit Mühe das ursprüngliche Model wieder - in den Bildern, die nach den Angaben der Beobachterinnen gezeichnet wurden, dagegen sofort.

Dieses Phänomen ist nun alles andere als neu - gerade von Frauen weiß man, dass sie allgemein dazu neigen, sich selbst in vieler Hinsicht (so auch in Bezug auf ihr Äußeres) viel zu kritisch und negativ zu beurteilen. Sie haben auch - das zeigte eine Studie der University of Glasgow 2001 - bis zu zehn Mal häufiger ein gestörtes Körperbild als Männer. In extremer Form findet man das bei essgestörten (magersüchtigen) Patientinnen; hier liegt dann eine so genannte „Körperschemastörung“ vor, d. h. die Betroffenen nehmen ihren Körper völlig verzerrt wahr. Wenn sie z. B. aus einer Anzahl vorgegebener Silhouetten diejenige auswählen sollen, die ihre eigene Figur am besten abbildet, wählen sie regelmäßig viel zu voluminöse Silhouetten aus. Aber auch bei gesunden Frauen ist eine realistische Einschätzung ihrer eigenen Figur leider eher die Ausnahme als die Regel - die meisten von uns würden bei einem entsprechenden Experiment wahrscheinlich mindestens eine Silhouettengröße zu groß wählen. Schon 1987 zeigte eine Studie von Cash & Brown, dass Frauen ihren Körper in Umfang und Größe fast immer überschätzen. Das ist seither sicher nicht besser, sondern eher schlimmer geworden. Eine normale Figur finden die meisten Frauen zu dick (während Männer, die tatsächlich oft übergewichtig sind, sich darüber kaum Gedanken machen - auch das belegte die schon erwähnte Studie aus Glasgow). Und das betrifft nur die Aspekte Gewicht und Figur, aber auch bei allen anderen körperlichen Merkmalen verfahren wir genauso unfreundlich und grausam mit uns selbst, wenn wir in den Spiegel schauen ....

Die seltsame Diskrepanz zwischen dem, was wir im Spiegel sehen, und dem, was andere sehen, wenn sie uns anschauen, kommt natürlich nicht von ungefähr. Zum einen werden Schönheit und Schlanksein in unserer Gesellschaft überbetont und zunehmend als „machbares“ Ideal propagiert. Sendungen wie „Germany‘s Next Top Model“ & Co. formen schon in den Köpfen vorpubertärer Mädchen ganz klar, wie „frau“ auszusehen hat, um beliebt, erfolgreich und attraktiv zu sein. Und war früher Schönheit eben ein Gottesgeschenk, das die einen hatten, die anderen aber nicht, vermitteln diese Sendungen heute einem gleichzeitig die Idee, dass es einzig an einem selbst liegt, diesem Ideal möglichst nahe zu kommen. Wenn man nicht in Size Zero passt, dann nur, weil man eben so undiszipliniert ist. (Oder, um Heidi Klum zu zitieren: „Wenn sie vier Donuts die Woche essen und zu viel Brot und Kuchen und wenn ihr Körper darunter leidet und auch ihre Haut, dann muss ich ihnen sagen, dass es nicht der richtige Job ist.“ Vier Donuts pro Woche sind also schon zu viel ...)

Und das ist nur der Anfang. Der weibliche Körper bietet einem ja so viele Möglichkeiten, sich unattraktiv, nicht-ideal und nicht-normgerecht zu fühlen. Ständig bekommen wir von den Medien photogeshoppte Hochglanzbilder um die Ohren gehauen, wie wir eigentlich aussehen sollten - und auch aussehen könnten, wenn wir uns denn nur endlich zusammenreißen, die Donuts weglassen und uns genügend Mühe geben würden. Dünnes, glanzloses Haar? Falscher Friseur, falsches Shampoo, falsche Föntechnik - sorry, du bist raus! Ungleichmäßige Haut, womöglich noch mit (igitt!) sichtbaren POREN darin? Falsches Peeling, falsche Creme, falsche Ernährung, falsches Make-up - sorry, du bist auch raus! Und so geht es weiter ... bis hin zu unseren intimsten Körperzonen. Die Nachfrage nach ästhetisch begründeten Schamlippenkorrekturen steigt in nahezu allen Industrienationen seit Jahren sprunghaft an; im Schnitt zeichnen sich hier jährliche Wachstumsraten von bis zu 30 % ab. Der Medizinpsychologe und -soziologe Elmar Brähler kommentierte diesen Trend in der Wikipedia nüchtern wie folgt: „Knapper werdende Badebekleidung sowie die starke Präsenz von Nacktheit in den Medien tragen dazu bei, dass sich für diese Bereiche ästhetische Normen herausbilden. Speziell für den Bereich der Intimrasuren bei Frauen lässt sich sagen, dass es die ‚neue‘ Sichtbarkeit der äußeren weiblichen Genitalien ist, die dazu führt, dass sich auch hier Schönheitsnormen herausbilden: Erstmals entwickelt sich eine allgemein gültige – für weite Schichten der Bevölkerung – verbindliche Intimästhetik. Eine bis dato primär zur Privatsphäre zählende Körperregion – die Schamregion – unterliegt fortan einem Gestaltungsimperativ.“ - „Allgemein gültig“ ... „verbindlich“ ... „Gestaltungsimperativ“ ... Ach, George Orwell, wie harmlos scheinen deine „1984“-Fantasien vor einem solchen Hintergrund doch heute ...

Unsere Mütter waren in dieser Hinsicht auch nicht immer nur hilfreich, denke ich - auch wenn sie den Pickel, der uns damals mit 15 vom Fetenbesuch beinahe abgehalten hätte, vielleicht großzügig zu übersehen wussten. Im meist wohlmeinenden Bemühen, uns in Sachen Attraktivität zu „helfen“, gelegentlich vielleicht auch aus bloßer Unüberlegtheit heraus, haben sie vielen von uns auch die eine oder andere Hypothek mit auf den Weg gegeben. Das zeigt beispielhaft der Kommentar der einen Frau aus dem Video: „Meine Mutter hat immer gesagt, ich hätte einen sehr großen Kiefer ...“ Bei mir war es nicht der Kiefer, meine Mutter hatte immer etwas an meinen Zähnen auszusetzen, die waren ihr zu unregelmäßig. Jedenfalls zischte sie, wenn irgendwo ein Fotoapparat auftauchte, schon in jungen Jahren gerne: „Mund zu!“ in meine Richtung - was ich auch brav machte und immer nur mit geschlossenen Lippen lächelte. Und was ich dann dermaßen verinnerlichte, dass ich selbst auf meinen Hochzeitsfotos fast überall so ernst dreinschaue, dass man sich zu Recht fragen muss, ob da vielleicht gerade eine Zwangsheirat dokumentiert wird. Ich war schon Anfang Dreißig, als eine Fotografin, bei der ich damals Passbilder machen lassen musste, spontan zu mir sagte: „Sie haben aber ein wirklich tolles Lachen!“ Ich schaute die Frau an wie vom Donner gerührt. Es war mir nie in den Sinn gekommen, dass ein fröhlich strahlendes Gesicht ein paar unregelmäßige Zähne vollkommen unwichtig werden lassen könnte. Aber die Frau hatte Recht, das sah ich auf den Fotos, die sie gemacht hatte, selber. Meine Mutter hatte es gut gemeint - und mir einen schlechten Dienst damit erwiesen; wahrscheinlich so ähnlich wie die Mutter der Frau mit dem vermeintlich „sehr großen Kiefer“.

Was Wunder also, dass gerade wir Frauen in Bezug auf unser Aussehen mit einem Blinden Fleck vor den Augen leben, dessen Größe vermutlich in etwa der des Pazifiks entspricht. Die meisten von uns laufen die ganze Zeit mit einer innerlichen Mängelliste hinsichtlich ihrer Erscheinung in der Hand durchs Leben, die Tag um Tag und Jahr um Jahr akribisch ergänzt und vervollständigt wird. Und wenn dann jemand Außenstehender etwas Nettes zu uns sagt oder uns - Gott behüte! - gar ein richtiges Kompliment macht, dann schütteln wir abwehrend den Kopf und blenden das sofort als unzutreffend aus, weil es nicht zu unserer Selbstwahrnehmung passt - statt uns öfter mal zu fragen, ob vielleicht mit unserer Selbstwahrnehmung irgendetwas ganz und gar nicht stimmt. Und lassen zu, dass es uns damit schlecht geht.

Ich fand es jedenfalls sehr berührend, die Gesichter der Frauen in dem Dove-Spot zu sehen, während sie die beiden nebeneinander hängenden Zeichnungen - die, auf der sie sich selbst beschrieben hatten und die, bei der jemand anders „federführend“ gewesen war - betrachten. Da spiegeln sich ganz unterschiedliche Emotionen: Überraschung, Staunen, Unglauben, ein kurzes, freudiges Aufstrahlen - und dann bei fast allen Tränen. Tränen über die Erkenntnis, wie falsch sie sich selbst sehen und wie unrecht sie sich selbst damit tun. Wie unrecht wir alle uns damit tun. Ich glaube nicht, dass es viele Frauen gibt, bei denen das Ergebnis des Experiments anders ausgefallen wäre - bei mir zumindest sicherlich nicht. Und das, obwohl ich mich ja nun eigentlich weiß Gott genug in den letzten Jahren mit all diesen Themen beschäftigt habe und über all die Mechanismen der medialen Manipulation als Psychologen sehr genau Bescheid weiß. Trotzdem gibt es einfach immer noch zu viele von „diesen Tagen“ oder doch zumindest Momenten wie gestern in meinem Leben. Trotzdem lasse ich es immer noch viel zu oft zu, dass in meinem Kopf der Gestaltungsimperativ für mein Aussehen aufblitzt, wenn ich in den Spiegel schaue - und die Mängelliste in meinem Kopf zu rattern beginnt. „Wir Frauen verbringen eine Menge Zeit damit, die Dinge, die wir an uns nicht mögen, zu analysieren und zu korrigieren. Wir sollten lieber mehr Zeit damit verbringen, uns an den Dingen zu freuen, die wir an uns mögen“, fasst es eine Frau am Schluss des Spots zusammen. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Bei mir hängt der Claim des Spots - „Du bist schöner, als Du denkst!“ - jedenfalls jetzt sicherheitshalber mal am Badezimmerspiegel. Für den nächsten von „diesen Tagen“ ....



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