Urlaub vom Ich - was unsere Reisen über uns aussagen



Na, schon im Urlaub gewesen diesen Sommer? Oder steckst du gerade in den letzten Vorbereitungen dafür? Gerade wir Deutschen gelten ja als sehr reiselustiges Völkchen - im Vergleich zu den Franzosen oder Italienern beispielsweise zieht es uns deutlich häufiger ins Ausland; aber natürlich fahren viele auch gerne in deutsche Urlaubsregionen z. B. an Ost- oder Nordsee. Dafür nimmt man dann jede Menge Aufwand in Kauf, vom Kofferpacken über den Stau bis hin zu möglicherweise nötigen Impfungen und Jet-lag - ganz zu schweigen von den dadurch entstehenden Kosten. Spannend finde ich persönlich, dass es ja - so, wie es unterschiedliche Persönlichkeitstypen gibt - auch unterschiedliche „Reisetypen“ zu geben scheint. Ein befreundetes Pärchen von uns pflegt beispielsweise ein- oder zweimal im Jahr Haus, Kinder und Tiere der Oma und dem Au-Pair-Mädchen in die Hände zu drücken und fliegt dann jeweils für eine Woche an ein möglichst entferntes, möglichst exotisches Urlaubsziel. Dort flitzen sie dann fünf oder sechs Tage von einem Ort zum anderen (letztes Jahr war es Namibia, dieses Jahr China), verbringen möglichst jede Nacht in einem anderen Hotel und packen in einen 24-Stunden-Tag Besichtigungen und Touren von mindestens 36 Stunden hinein. Mir wird schon schummrig von all der Aktivität, wenn ich mir nur den anschließenden Reisebericht anhöre! Andere Bekannte dagegen zieht es schon seit zwanzig Jahren beharrlich in die immer gleiche Ferienwohnung im immer gleichen Ostseebadeort. Meine Schwester schließlich steigt am liebsten in ihren Wohnwagen und fährt damit irgendwo an den Atlantik - mit Kindern, Hund, Salzstreuer und allem, was man sonst so braucht, zur Not übereinander gestapelt; dort legt sie sich an den Strand und liest in drei Wochen ungefähr hundertfünfzig Bücher ...

Ich habe mich schon oft gefragt, was eigentlich für Motive hinter diesem merkwürdigen und individuell so unterschiedlichen menschlichen Verhalten namens Urlaub stecken und fand deshalb die Forschungsergebnisse der Berliner Psychologin Bettina Graf, über die ich kürzlich gestolpert bin, sehr interessant. Sie meint, wir bringen im Urlaub vor allem zwei entgegengesetzte Urbedürfnisse wieder in Einklang, die uns Menschen umtreiben: das nach Bindung und Geborgenheit auf der einen Seite und das nach Autonomie und Freiheit auf der anderen Seite. Im Alltag kommt oft eines dieser beiden Bedürfnisse zu kurz, weil wir z. B. sehr in familiäre und berufliche Verpflichtungen eingespannt sind und uns insgeheim ab und zu mehr Unabhängigkeit wünschen. Oder umgekehrt relativ losgelöst von Bindungen leben, vielleicht inmitten einer Großstadt, wo kein Nachbar im Haus den anderen kennt, weit weg von unserer Ursprungsfamilie, und uns mehr Nähe und Eingebundenheit ersehnen. Graf fand in ihrer Untersuchung, dass viele Menschen im Urlaub dann quasi den im Alltag weniger präsenten Pol ausbalancieren. Das gilt dann nicht nur für die äußeren Bedingungen, sondern auch für die inneren, denn im Urlaub kann man auch relativ problemlos mal in eine andere Rolle schlüpfen und damit eine Seite von sich und eigene Möglichkeiten ausleben, die sonst eher unbeachtet vor sich hin dümpeln. Aus der braven Sekretärin in Kostümchen und Pumps wird dann vielleicht die abenteuerlustige Rucksacktouristin, die ganz ohne Lippenstift und Nagellack quer durch Nepal trekkt. Reisen bildet nicht nur, es bietet auch die Chance, neue Kompetenzen zu entwickeln und zu erproben. Wer zuhause eher schüchtern und zurückhaltend ist, ist in der Fremde vielleicht eher auf der Lage, auf Leute zuzugehen - und sei es nur aus der Not heraus, Erkundigungen einzuholen. Graf unterstellt dem Reisen da einen (im besten Fall) nahezu therapeutischen Effekt, denn genau wie in einer Therapie werden neue Verhaltensstrategien gefunden und ausprobiert, die dann vielleicht auch nach der Rückkehr nach Hause beibehalten werden können. Und der Kick für das Selbstbewusstsein, wenn man in der Gewissheit heimkommt, dass man unvorhergesehene und vielleicht sogar problematische Situationen erfolgreich bewältigen konnte, ist natürlich auch nicht ohne.

„Wohnwagenreisende suchen im Urlaub vor allem Geborgenheit“, sagt die Psychologin. Dazu fällt mir der Aufkleber ein, den ich vor ein paar Tagen auf einem Wohnmobil gesehen habe: „In einem Hotel bin ich Gast - in meinem Wohnmobil bin ich zu Hause.“ Ich habe mich damals darüber gewundert (wieso fährt man denn überhaupt von zu Hause weg, wenn einem das Zuhausesein so wichtig ist? habe ich mich gefragt), aber offenbar trifft der Satz den Nagel auf den Kopf. Camper im Wohnwagen sorgen nämlich wirklich dafür, dass sie sich zwar einerseits wie zu Hause fühlen, aber dabei besser relaxen können als in den heimischen vier Wänden, denn alles ist auf dem Campingplatz viel lockerer: „Die Camper ziehen sich in eine kindgerechte Welt zurück, in der das Verhalten weitaus weniger Regeln unterworfen ist als im normalen Alltag,“ hat Graf festgestellt. Durch das enge Neben- und Miteinander gibt es weniger soziale Hemmungen, Kontakte werden schnell geknüpft und niemand findet etwas dabei, wenn man den ganzen Tag in Badehose oder Jogginganzug herumläuft. Man hat alles zur Hand, was einem für den persönlichen Komfort unverzichtbar erscheint (von der Lieblingsbiersorte bis hin zum Lieblingskopfkissen), lässt aber alles zu Hause, was Stress oder Druck erzeugen könnte: Plastikteller statt Abwasch, Dosensuppe und Grillwürstchen statt Drei-Gänge-Menü, Badeschlappen statt High Heels. Im ungezwungenen Miteinander auf dem Campingplatz kommen sich sogar der Fernfahrer und der Oberregierungsrat näher und finden gemeinsame Gesprächsthemen. Man ist Teil einer großen, fröhlichen Gemeinschaft und gleichzeitig doch Herr des eigenen Territoriums. Viele Campingurlauber, vor allem diejenigen, die Jahr für Jahr auf den gleichen Campingplatz fahren, schlüpfen dort wie selbstverständlich in ihre Ferienrollen, die sie dort alljährlich einnehmen - als Partylöwe oder auch als derjenige, der für die Einhaltung der Campingplatzordnung sorgt. Dabei kommt dann oft endlich der Anteil von ihnen zum Zuge, der den Rest des Jahres eher ein Schattendasein fristen muss. Graf spricht von einem regelrechten „Dorfcharakter“ solcher Campingplätze, aber eben ohne die sonst üblichen Kategorien wie berufliche Position, Status, Einkommen oder dergleichen. Beziehungen sind hier sehr wichtig, sie werden gesucht und gepflegt.

Rucksackreisende dagegen, hat Graf herausgefunden, betonen in ihrem Urlaub eher die Seite, die nach Autonomie und Freiheit strebt. Für unser Freundespärchen, das jährlich seinen Exoten-Marathon absolviert, trifft das sicherlich zu, da beide im Alltag beruflich und familiär stark eingespannt sind und jede Menge Pflichten zu erfüllen haben. Da ist die völlige Ungebundenheit im Urlaub natürlich eine ganz wichtige Ausgleichserfahrung. Man bekommt eine Fülle neuer Eindrücke, lernt immer wieder neue Leute kennen, aber das Ganze ist absolut unverbindlich und verpflichtet einen zu nichts. Etwas ganz Ähnliches hat mir neulich auch ein Klient berichtet, der sich für einen Pilger-Urlaub auf dem Jakobsweg entschieden hatte. Er genoss es sehr, dass er unterwegs immer wieder andere Pilger traf, mit denen er sich austauschen und auch ein Stück Weges gemeinsam gehen konnte, wenn ihm danach war, dass er sich aber auch jederzeit wieder verabschieden und in seine Einsamkeit zurückkehren konnte, wenn es ihm genügte. Was für ein Unterschied zu unseren alltäglichen Gewohnheiten und sozialen Zwängen, wenn wir zähneknirschend zu Tante Elses 75. Geburtstag fahren, obwohl wir viel lieber am Baggersee oder auf der Couch zuhause geblieben wären, oder wenn wir innerlich seufzend wieder mal die Tiraden der nervigen Kollegin in der Kaffeepause anhören, die uns nicht für zehn Cent interessieren, weil wir sie nicht vor den Kopf stoßen wollen ... Als Rucksacktourist hat man natürlich auch wunderbar Gelegenheit, ganz neue Seiten an sich selbst zu entdecken und sein Improvisationstalent und seine Intuition zu schulen. Bettina Graf stellte das vor allem bei denjenigen fest, die sich für Trips in Länder jenseits der westlichen Zivilisation entschieden und sich damit in jeder Hinsicht auf ganz unvertrautes Terrain begaben - räumlich, klimatisch, aber vor allem auch kulturell. Jede Menge Risiken, aber eben auch Chancen auf neue Erfahrungen und eigene Entwicklung.

Was für einen selbst wichtig und erholsam ist, muss natürlich jeder für sich selbst herausfinden. Bedenklich wird es nur dann, wenn man sich bei der Suche nach dem Urlaubsziel zu sehr von Trends oder der Meinung anderer abhängig macht und sich plötzlich in einer Reisesituation wiederfindet, die einem selbst eigentlich so gar nicht entspricht und einen vielleicht sogar komplett überfordert. In Managerkreisen, habe ich von einem Freund kürzlich gehört, ist es ziemlich en vogue, sich im Urlaub (wie im Job eben!) Ziele zu stecken und diese wild entschlossen umzusetzen: auf den Kilimandscharo klettern zum Beispiel oder auch ein Überlebenstraining in den Alpen absolvieren. Natürlich, wenn so etwas klappt, kann es das Selbstvertrauen in die eigene Problemlösefähigkeiten und das eigene Durchhaltevermögen bestimmt sehr stärken - aber ich frage mich, ob es wirklich einen so guten Ausgleich für Manager darstellt, den Stress, den sie im Berufsalltag ohnehin dauernd spüren, sozusagen 1:1 in den Urlaub mitzunehmen. Dazu muss es übrigens gar nicht die sportliche Höchstleistung sein; es ist auch in anderer Hinsicht gut möglich, seine Grenzen völlig falsch einzuschätzen. Eine Bekannte von uns hatte vor einigen Jahren, vom allgemeinen Asien-Fieber angesteckt, eine Rucksacktour durch Indien geplant. Bis dahin war sie eher die klassische Mitteleuropa-Pauschaltouristin gewesen, aber jetzt hatte sie gerade eine schwierige Trennung und eine komplette Umstellung ihres Lebens hinter sich gebracht, da schien ihr ein Selbstfindungstrip ins Ungewisse doch sehr viel passender. Was soll ich sagen - viel weiter als Delhi ist sie nicht gekommen. Schon beim Verlassen des Flughafens war der Kulturschock so groß, dass sie ziemlich verspult wurde; schließlich ist es eine Sache, im Reiseführer über Leprakranke zu lesen, und eine ganz andere, plötzlich von einem Bettler in der Hoffnung auf ein paar Münzen einen Armstumpf unter die Nase gehalten zu bekommen. Und es ist auch ein ziemlicher Unterschied für das mitteleuropäische Verdauungssystem, ob man in einem (nach internationalen Standards geführten) Hotel ans abendliche Buffet geht, oder ob man sich bei einem Straßenhändler etwas zu essen kaufen muss. Zwei Tage hat es gedauert, bis sie so sterbenskrank war, dass sie auf Rucksack und Selbstfindung pfiff und ins nächste große Hotel flüchtete, wo sie eigentlich nur noch sehnsüchtig auf ihren Rückflug in die Heimat wartete. So etwas ist dann sicherlich keine Erfahrung, die dem Selbstwert sonderlich gut tut, von der Erholung ganz zu schweigen. Da wäre der Campingplatz in Südfrankreich doch vielleicht die bessere Wahl gewesen ...

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