Rollenspielsucht - Wenn World of Warcraft zur Droge wird



Gestern hat mich eine E-Mail erreicht, die sich mit einem Thema beschäftigt, dass auch in meiner Praxis zunehmend mehr Raum einnimmt: Online-Rollenspielsucht. Bisher haben Computerspiele und ihre negativen Auswirkungen auf manche Kinder und Jugendlichen ja meist dann Furore gemacht, wenn mal wieder ein Amoklauf an einer Schule stattgefunden hatte und heftige Ursache-Wirkungs-Diskussionen hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen gewalttätigen Computerspielen und der Bereitschaft, auch in der Realität andere Menschen zu töten, durch die Medienwelt rauschten. Für ein paar Wochen wurden dann immer alle möglichen Experten dazu befragt, strengere Kontrollen für den Verkauf und Vertrieb solcher Spiele gefordert, Indexlisten und Zensurmöglichkeiten diskutiert, Untersuchungsergebnisse veröffentlicht ... und dann wurde es irgendwann wieder ruhig um das Thema, weil ein aktuelleres Geschehen die Schlagzeilen füllte. Übersehen oder zumindest verharmlost wird bei dieser ganzen Debatte um den Zusammenhang zwischen Gewalt im Alltag und Computerspielen allerdings gerne ein weniger spektakulärer Aspekt dieser Freizeitbeschäftigung am Rechner: nämlich die Internetspielsucht ganz allgemein. Denn selbstverständlich ist es (zum Glück!) nur ein verschwindend geringer Prozentsatz der Spielenden, der irgendwann auch im wirklichen Leben zur Waffe greift und irgendwo ein reales Blutbad anrichtet - aber wie groß ist wohl mittlerweile die Zahl derjenigen, die da draußen heimlich, still und leise mehr und mehr in die virtuelle Welt abdriften und irgendwann den Weg zurück in die Realität gar nicht mehr finden können?

Speziell Online-Rollenspiele bergen ein immens großen Suchtpotenzial, das erst ganz langsam in das Blickfeld von Forschung und Öffentlichkeit gerät, was natürlich auch daran liegt, dass die Folgen dieser Sucht für die Gesellschaft kurzfristig weit weniger sichtbar und dramatisch sind als zum Beispiel der Amoklauf eines Schülers. Dafür sind die Auswirkungen für die Betroffenen und deren Angehörige umso zerstörerischer. Besonders tückisch dabei ist der schleichende Übergang vom Online-Spielen als Teil einer „normalen“ Freizeitgestaltung hin zur Online-Spielsucht, bei der die Betroffenen Schritt für Schritt alle Kontakte zur Außenwelt auf das absolut notwendige Minimum reduzieren, sich selbst und ihr räumliches Umfeld verkommen lassen (zugemüllte Wohnungen sind dabei eher die Regel denn die Ausnahme) und schließlich sogar ihre Ausbildung oder Arbeit aufgeben, um noch mehr Zeit in der virtuellen Welt verbringen zu können. Emotionale und soziale Verarmung sind die Folge. Sowohl in ihrem Verlauf als auch in ihren Auswirkungen kann man daher diese Sucht durchaus mit anderen Süchten, z. B. dem Alkoholismus, vergleichen. Die Zahl der Internetrollenspielsüchtigen wird derzeit weltweit auf 1,5 Millionen geschätzt, Tendenz steigend.

Ein Elternpaar, das seinen Sohn an das Rollenspiel „World of Warcraft“ verloren hat, hat nun eine Initiative ins Leben gerufen, die ich für absolut unterstützenswert halte und deshalb auch hier auf unserer Seite promoten möchte. Unter http://www.rollenspielsucht.de finden sich neben der Geschichte dieser Familie auch Erfahrungsberichte von anderen Betroffenen und deren Angehöriger, es werden Unterstützung bei der Gründung von Selbsthilfegruppen und die Möglichkeit zum Austausch angeboten, es werden aber auch und vor allem Forderungen an die Politik gestellt, dem ungezügelten Konsum solcher Online-Spiele entgegen zu wirken. In China, wo diese Sucht bereits noch stärker grassiert als hierzulande, ergreift man jetzt bereits die ersten Gegenmaßnahmen, indem z. B. die tägliche Spielzeit per Gesetz (!) auf drei Stunden begrenzt wird.

Selbstverständlich sind den Möglichkeiten des Staates, hier regulierend einzugreifen, aber relativ enge Grenzen gesetzt, wenn wir nicht in einem totalitären Überwachungsstaat, der seine Bürger entmündigt, enden wollen. Abgesehen davon steht hinter diesen Spielen - wie hinter allen anderen legalen Suchtmitteln eine mächtige Lobby, die mit dem Geschäft Milliardenumsätze verdient und logischerweise alles tut, um sich diese nicht einschränken zu lassen. Das heißt aber nicht, dass der Staat machtlos wäre - die in den letzten Jahren umgesetzten Maßnahmen, die der Tabakindustrie das Leben schwer machen (von Werbeverboten über Aufdrucke auf Zigarettenschachteln bis hin zum Rauchverbot in öffentlichen Räumen und der Umstellung von Automaten auf Kartenbetrieb) zeigen, dass es sehr wohl möglich ist, zumindest die Schwelle zum Suchtmittel höher zu setzen und den Konsum schwieriger und unattraktiver zu machen. Es lohnt sich also auf jeden Fall, die Initiative zu unterstützen und politischen Druck auf die Gesetzgebung auszuüben. Zumal es sich in vielen der auf der Seite geschilderten Fällen nicht um Kinder, sondern um junge oder auch ältere Erwachsene handelt, die natürlich dem Einfluss ihrer Eltern längst entwachsen und daher nur noch über gesetzliche Regelungen erreichbar sind.

Was mich persönlich aber besonders erschreckt, ist oft die Ahnungslosigkeit und Gleichgültigkeit von Eltern, deren Kinder mehr und mehr in Computerspielen versinken und bald keinerlei andere Interessen mehr haben. In den letzten Monaten hatte ich gleich zwei Fälle von Jungs - der eine sieben (!!), der andere neun Jahre alt, die auf Drängen ihrer Lehrerinnen mit ihren Müttern zu mir gekommen waren. Die Verhaltensänderungen der beiden Jungs waren durchaus gegensätzlich: Während der Jüngere sich in der Schule und seinem häuslichen Umfeld zunehmend aggressiv und unkonzentriert benahm und dem Unterricht kaum noch folgen konnte, war der Ältere stark auf dem sozialen Rückzug und setzte sich fast gar nicht mehr mit seinen Altersgenossen auseinander. Fast noch gefährlicher - denn er fiel dadurch natürlich erst mal nicht unangenehm auf, sondern war eher überangepasst brav und störte niemanden. Solche Kinder werden dann leicht gar nicht als problematisch wahrgenommen, denn sie machen ja so gar keinen Ärger! Erst der Hinweis einer Klassenkameradin, der Junge werde von einer Gruppe anderer Jungs ständig gehänselt und gequält ohne sich zur Wehr zu setzen, rief dann die Lehrerin und im Anschluss die Mutter auf den Plan. Bei beiden Jungs zeigte sich schnell, dass sie in ihrer Freizeit praktisch ununterbrochen mit dem Computer beschäftigt waren. Beide besaßen auch ihre eigenen Computer, zu denen sie unbegrenzt Zugriff hatten. Aktivitäten im Freien, mit Freunden, sportliches Engagement oder dergleichen gab es in ihrem Leben wenn überhaupt, dann nur in verschwindend kleinem Maß. Die Eltern hatten diese Entwicklung wohl auch deshalb hingenommen, da sie für sie im Alltag ziemlich „praktisch“ war: So lange der Junge vor dem Computer in seinem Zimmer saß, war er ja gut versorgt ... Man musste sich keine Sorgen machen, es gab keine lästige Fahrerei zu Sportveranstaltungen oder Freunden, er machte keinen Lärm, brachte keine dreckverschmierten Klamotten mit nach Hause, brachte die Wohnung nicht durcheinander ... Dass die Kinder mehr und mehr in ihre virtuellen Welten abdrifteten und mit den realen sozialen Gegebenheiten um sich herum zunehmend ihre Schwierigkeiten bekamen, war ihnen nicht aufgefallen.

Ich möchte hier nicht polemisieren und auch nicht pauschal mit dem Finger auf Eltern zeigen, denen heutzutage meiner Meinung nach sowieso viel zu viel angelastet wird und die sich vor lauter Verunsicherung, was sie nun wie zu machen haben, oft gar nichts mehr trauen. Ganz oft ist es auch schlicht Unwissenheit und eine gewisse Hilflosigkeit der Eltern angesichts eines Mediums, das sie selbst zwar auch zu nutzen gelernt haben, das sie aber eben nicht mit der Muttermilch aufgesogen haben, wie es bei ihrem Nachwuchs der Fall ist. In den beiden oben geschilderten Fällen schauten mich die Jungs nur amüsiert an, als ich nach Dingen wie „elterliche Freigabe“ für den Computer oder passwortgeschützten Zugriff fragte. „Meine Mutter kann noch nicht mal das Schreibprogramm ordentlich bedienen“, spottete der Neunjährige. „Und wenn sie dir das Netzkabel wegnimmt, wenn du zu lange spielst?“, fragte ich zurück. „Dann gehe ich an den Fernseher“, antwortete er. „Und wenn der auch nicht funktioniert?“ „Dann hab ich immer noch meine Playstation“, konterte er. „Und wenn sie die versteckt hat?“ „Dann gehe ich zu meinem Freund, dessen Eltern kommen eh erst abends heim und seine Oma lässt uns machen, was wir wollen.“ Kein Wunder, dass viele Eltern da schon gar nicht erst mit dem Nachwuchs in den Ring einsteigen, weil sie das Gefühl haben, ohnehin auf verlorenem Posten zu stehen. Der Gruppendruck unter den Freunden tut ein Übriges - mehr als eine Mutter hat mich schon ganz unglücklich angeschaut, als ich fragte, ob es wirklich nötig sei, dass ein unter Zehnjähriger schon einen eigenen Computer im Zimmer haben müsse, und geantwortet, dass er doch sonst mit den anderen Jungs nicht mithalten könne und ausgegrenzt werde. Ich verstehe gut, dass da bei manchen Eltern auch das Gefühl aufkommt, ihren Kindern etwas Wesentliches vorzuenthalten; vielleicht spielt auch die Angst mit, dass sie ihnen damit die Möglichkeit nehmen, schon früh die später im Beruf notwendigen Kompetenzen im Umgang mit dem Computer zu erwerben. Und ein Vergnügen ist es weiß Gott nicht, einem angesichts des gesperrten Computers tobenden Zwölfjährigen die Stirn bieten zu müssen. Doch wenn der Umgang mit den Medien nicht reglementiert ist, ist der Schritt zur Medienverwahrlosung der Kinder und Jugendlichen meiner Erfahrung nach nun mal verflixt klein.

Aber wenn ich so zurückdenke, dann gab es diese Machtkämpfe zwischen Eltern und Kinder doch eigentlich schon immer, auch wenn die Objekte der Diskussionen mit den Jahren andere geworden sind, oder? Was haben wir damals unsere Eltern mit dem Satz: „aber alle anderen Kinder in meiner Klasse dürfen auch ... / haben auch ...“ genervt! Es war halt nicht der Computer, sondern es war der „Tatort“, den natürlich alle anderen gesehen hatten außer mir oder es war die Party, auf der ich die aller-aller-aller-einzige war, die um neun nach Hause musste und deshalb ausgelacht wurde, oder was dergleichen eben an Streitthemen mehr sind. Eigentlich kann ich nicht wirklich einsehen, was sich so viel an der „Erziehungsaufgabe“ geändert haben soll. Eltern sind heute wie damals in der Pflicht, sich mit dem auseinanderzusetzen, was ihre Kinder interessiert und fasziniert und sich selbst ein fundiertes Urteil darüber zu bilden, ob und in welchem Umfang sie ihnen das erlauben wollen und sollten, so dass es zum Besten des Kindes ist. Computerspiele gehören heute einfach dazu - sich darum herumzudrücken mit der Begründung, dass man selbst „nichts davon versteht“, ist fahrlässig, anders kann ich es einfach nicht sagen. Das absolute Minimum in meinen Augen ist es, sich hinsichtlich der für unterschiedliche Altersgruppen empfohlener Maximalspielzeiten pro Tag oder Woche schlau zu machen und dann erstens die technischen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass man diese konsequent überwachen kann (für so was gibt es Fachleute in jedem Computergeschäft!!) und zweitens genügend Alternativangebote zu machen, damit die Kinder in der computerfreien Zeit nicht gelangweilt in der Ecke herumhängen, sondern merken, dass Spaß und Spannung nicht ausschließlich aus dem Computer kommen. Damit es eben genau nicht so ist, wie die zwanzigjährige Fabi auf der genannten Seite schreibt: „Also meine Meinung ist es, das nicht die spiele selbst für eine onlinesucht verantwortlich sind, sondern eher das heutige umfeld. Viele eltern vernachlässigen ihre Kinder, gehen kaum mit ihnen nach draussen...hocken selbst nur auf dem sofa. Ich kenne viele Fälle wo diese kinder total vereinsamen, keine Freunde finden und dann eben anfangen zu spielen. niemand ist für sie da. Der einzige Ort an dem sie sich trauen aus sich herauszukommen ist die online welt.“

Vor gerade mal zwei Monaten machte ein Elternpaar aus Nevada in den USA Schlagzeilen, das wegen grober Vernachlässigung seiner Kinder vor Gericht stand. Die 23jährige Mutter und der 25jährige Vater waren beide abhängig von einem Computerrollenspiel geworden - diesmal war es nicht „World of Warcraft“, sondern „Dungeons and Dragons“ und derart in ihrer Fantasiewelt versackt, dass ihre elf Monate alte Tochter und das 22 Monate alte Baby um ein Haar verhungert wären. Erschreckend genug, dass die Eltern eine Erbschaft von 36.000 € lieber in neue Computer und einen Plasmafernseher statt in ihre Kinder investiert hatten. Am schlimmsten fand ich aber das Zitat der Staatsanwältin, die feststellte, dass durchaus Lebensmittel in der Wohnung vorhanden gewesen seien. „Die Eltern waren nur zu beschäftigt mit ihren Computern, um des den Kindern zu geben.“

Wie viele Warnschüsse vor den Bug braucht diese Gesellschaft noch, um zu begreifen, was für eine Gefahr da auf sie zugerollt kommt?

Möchtest du mehr erfahren?

Dann mach doch unseren kostenlosen Persönlichkeitstest. Dauert keine 5 Minuten! Du erhältst sofort ein fundiertes Persönlichkeitsprofil. Für jeden Persönlichkeitstyp stehen maßgeschneiderte Ratgeber zu Themen wie Beruf und Partnerschaft zur Verfügung. Du kannst diese Ratgeber sofort auf deinen Rechner herunterladen. Starte mit dem Test!

Ähnliche Artikel der Diplom-Psychologin Felicitas Heyne: