Die Kinder psychisch kranker Eltern
18.01.08 von Diplom-Psychologin Felicitas Heyne | Abgelegt in: Lebenskrisen
Am Dienstag lief auf ARTE mal wieder ein interessanter Themenabend: „Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt - Volkskrankheit Depression“. In zwei Beiträgen wurde viel interessantes und aktuelles Wissen zu den psychischen Erkrankungen Depression und bipolare Störung (hierbei wechselt die Befindlichkeit des Betroffenen zwischen manischen und depressiven Phasen) vermittelt. Wer sich für diese Themenbereiche interessiert, den Sendetermin aber verpasst hat, dem sei das Videoportal ARTE+7 ans Herz gelegt, das es ermöglicht, sich die Beiträge noch bis zum 22.1. kostenlos im Internet anzusehen.
Mich hat vor allem der erste Beitrag beschäftigt, in dem drei Patienten mit bipolarer Erkrankung über ein Jahr hinweg begleitet und in verschiedenen Situationen gefilmt wurden. Darunter war auch Lena, Mutter dreier Kinder (das jüngste noch ein Baby), die in Bayern lebt. In einem ihrer allerersten Sätze erklärte sie, ihre Kinder hätten ihr schon mehrfach das Leben gerettet: dann nämlich, wenn sie in ihren depressiven Phasen mit dem Gedanken an Selbstmord gespielt hat, sich aber der Kinder wegen dagegen entschied. In diesem Zustand kann sie sich kaum noch um ihre Kinder kümmern. Die schreiben ihr dann liebevolle Zettelchen, um sie aus ihrer trüben Stimmung herauszulocken. Aber auch die manischen Phasen ihrer Mutter, in denen diese kaum noch schläft, ihre Kräfte völlig überschätzt und sich in ihrer überschäumenden Euphorie auch selbst in Gefahr bringt, sind für die Kinder kein Zuckerschlecken. Denn dann tritt Mama durchaus auch mal eine Tür ein oder tut sonstige erschreckende Dinge ... Dabei haben diese Kinder trotz allem noch Glück, denn sie sind mit einem offensichtlich sehr stabilen Vater gesegnet, der mit viel Geduld und Engagement aufzufangen versucht, was irgend geht.
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Im simpelsten Fall schwindet einfach das Einfühlungsvermögen der Eltern in die Kinder; die kindlichen Bedürfnisse werden von einem Moment zum anderen unwichtig. Für das Kind ist dieses Erleben beängstigend und verwirrend: Schließlich haben die meisten psychisch Erkrankten - so auch die Betroffenen in der ARTE-Reportage - mehr oder weniger lange Phasen, in denen sie nicht von ihren Symptomen beeinträchtigt sind. In dieser Zeit sind sie ganz normale, liebevolle Eltern, oft sogar noch zugewandter als gesunde Eltern, denn den meisten von ihnen ist sehr wohl bewusst, dass ihre Krankheitsschübe für die Kinder eine Belastung darstellen, und in ihren „guten“ Zeiten bemühen sie sich dann überschwänglich, all das wieder gutzumachen, was dem Kind in der Akutphase vermeintlich oder tatsächlich an Negativem zugefügt wurde. In der Wahrnehmung des Kindes wird der psychisch kranke Elternteil daher oft so ein bisschen zu Dr. Jekyll und Mr. Hyde, und fast alle Kinder entwickeln ein schon geradezu unheimliches Sensorium dafür, wann eine „gute“ Phase sich dem Ende zuneigt und die ersten Anzeichen der Krankheit am Horizont auftauchen.
Kinder psychisch kranker Eltern kämpfen an den verschiedensten Fronten einen aussichtslosen Kampf. Da Kinder grundsätzlich dazu neigen, sich schnell für etwas verantwortlich zu fühlen, was innerhalb der Familie aus dem Ruder läuft - alle, die mit Scheidungen und deren Folgen für Kinder zu tun haben, können ein Lied davon singen! -, tun sie dies auch angesichts des für sie unverständlichen Verhaltens des psychisch kranken Elternteils: Wenn sie nur bräver / klüger / tüchtiger / was auch immer wären, würde es Mama wieder besser gehen! Ich möchte wetten, auch die Kinder von Lena „wissen“ auf einer bestimmten Ebene ganz genau, dass es zu ihren „Aufgaben“ gehört, Mama im wahrsten Sinne des Wortes am Leben zu erhalten. So werden sie oft zu kleinen Versorgungsspezialisten für die kranke Mama; emotional ebenso wie im Alltag. Ich habe eine Fünfjährige kennen gelernt, die für sich und ihre alkoholkranke Mutter ganz regelmäßig die Mahlzeiten zubereitete! Mit allen Kräften versuchen die Kinder, den Anschein der Normalität aufrecht zu erhalten und den vermeintlich mit ihnen unzufriedenen Elternteil wieder zu versöhnen, indem sie extra lieb, extra pflegeleicht sind.
Unglücklicherweise ist diese Strategie der Überangepasstheit häufig mit ein Grund, warum dem Umfeld lange entgeht, wie schlecht es dem Kind eigentlich in dieser Situation geht, denn es ist ja nicht im landläufigen Sinne „auffällig“ (also beispielsweise aggressiv oder schlecht in der Schule), sondern ganz im Gegenteil umso leichter zu übersehen. Dazu trägt aber auch das in den meisten Familien geltende - ausgesprochene oder stillschweigend vermittelte - Kommunikationsverbot bei, das die Krankheit des Elternteils angeht: „Erzähl‘ ja keinem, wie schlecht es Papa wieder geht, sonst kommst du ins Heim!“ So ist es dem Kind doppelt unmöglich, die Aufmerksamkeit Außenstehender zu erwecken und sich vielleicht Hilfe und Unterstützung zu sichern. Da ist es schon vergleichsweise günstiger, wenn das Kind durch massive Verhaltensänderungen auch in familienexternen Situationen (z. B. in der Schule oder im Kindergarten) signalisiert, dass es dringend Hilfe braucht. Und dann vielleicht noch das Glück hat, dort auf einen Lehrer oder eine Erzieherin zu stoßen, die die Signale richtig deutet und ernst nimmt ... leider auch keine Selbstverständlichkeit.
Besonders schlimm ist es für die Kinder, wenn der kranke Elternteil plötzlich - oft genug leider ohne vernünftige oder verständliche Erklärung - verschwindet, weil er oder sie stationär aufgenommen werden musste. Denn das schürt ihre schlimmsten Verlustängste. Kinder spüren ganz genau, wann ihrem Zuhause das Auseinanderbrechen droht, und die Sorge um den kranken Elternteil ebenso wie die Angst davor, dass die Familie auseinandergerissen werden könnte, sind ihre ständigen Begleiter. Übrigens durchaus zu Recht: immerhin 20 % der an Depressionen Erkrankten nehmen sich das Leben, und bei der bipolaren Störung ist die Suizidrate höher als bei jeder anderen psychischen Erkrankung! Entsprechend ist eine gute Kommunikation mit den Kindern in Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil noch viel wichtiger als anderswo. Je offener die Beteiligten mit dem Kind und untereinander über die Krankheit sprechen, desto eher kann es das Geschehen einordnen und verarbeiten, das zeigt die Forschung. Ganz wichtig ist daneben auch mindestens eine verlässliche und vertrauenswürdige Bezugsperson für das Kind. Gibt es einen zweiten, gesunden Elternteil, kann dieser natürlich diese Funktion übernehmen, aber da er oft schon sehr viel Energie auf die Stabilisierung seines Partners aufwenden muss, ist es eigentlich besser, wenn es noch eine andere Person im Leben des Kindes gibt: die Großmutter vielleicht oder eine Nachbarin, vielleicht auch eine Erzieherin oder ein Vertrauenslehrer. Wesentlich ist nur die Erfahrung der Konstanz, Berechenbarkeit und emotionale Stabilität dieser Beziehung.
Wenn ich in diesem Zusammenhang einen Wunsch frei hätte, dann wäre es bestimmt der: dass jedes Kind mit einem Elternteil, bei dem eine psychische Erkrankung diagnostiziert wurde, gleichzeitig mit seinem Vater oder seiner Mutter an ein Hilfsangebot angedockt wird. Untersuchungen zeigen immer wieder, dass Kinder, die in einer Familie mit einem psychisch kranken Elternteil leben, ein zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko tragen, selbst eine psychische Störung zu entwickeln. Ist ein Elternteil schizophren, liegt die Wahrscheinlichkeit zehn- bis fünfzehnfach über dem Normalwert; bei Störungen des Affekterlebens (also z. B. Depression) sind es immer noch drei- bis sechsmal so viele Kinder mehr, die ebenfalls depressiv werden, als wenn beide Eltern gesund sind. Und auch bei Angststörungen der Eltern sind die Kinder etwa siebenfach häufiger ebenfalls betroffen als im Durchschnitt der Bevölkerung. Dabei ist es eigentlich ganz gleichgültig, inwieweit genetische Faktoren oder einfach die erschwerten Lebensumstände der Kinder zu dieser Häufung beitragen - in jedem Falle weiß man einfach, dass diese Kinder extrem belastet sind und auf keinen Fall allein gelassen werden sollten. Und es gibt sie ja, die Hilfsangebote, nur nutzen muss man sie halt! Das wird natürlich umso wahrscheinlicher, je besser der sozio-ökonomische Status und der Bildungsgrad der Eltern ist, klar. Doch sogar hier gibt es ziemliche Unterschiede hinsichtlich der Krankheitseinsicht und des Umgangs des Betroffenen mit seiner Krankheit - leider.
Die vorgestellten Patienten in der ARTE-Dokumentation waren alle drei sicher gut situiert und gebildet. Trotzdem haben alle drei erzählt, dass sie beispielsweise ihre Medikamente immer wieder mal in Eigenregie absetzen - mit den entsprechenden Konsequenzen für ihre Befindlichkeit. Bei allen dreien hatte man auch, wenn man genau hinhörte, den Eindruck, dass die Krankheit für sie nicht nur etwas Negatives war. Die jüngste Patientin, die Studentin Sandra, sagt es vielleicht am ehrlichsten, wenn sie formuliert: „Ich will was Besonderes sein, und die Krankheit gehört dazu.“ Aber auch wenn man dem Textilhändler Jakob zuhört, wie er abfällig über seine Mutter spricht, die ebenfalls schon ihr ganzes Leben an einer bipolaren Störung leidet, und die „halt 50 Jahre gearbeitet hat, weil sie ihre Medikamente immer wie ein Uhrwerk genommen hat“, merkt man ganz deutlich, dass eine psychische Erkrankung für die Betroffenen - bei allem Leid, keine Frage! - doch oft auch diese andere, angenehme Seite hat: Versorgtwerden, Rücksichtnahme, Entlastung in allen Bereichen, Verantwortungsabgabe usw. Jakob ist denn auch ein klassischer Kunde der „Drehtürpsychiatrie“; wenn ihm alles zu viel wird, dann flüchtet er für ein, zwei Monate in die Klinik und lässt sich dort auffangen. Und sein Rentenantrag läuft schon ...
Ich bin jedenfalls am Dienstagabend ziemlich nachdenklich ins Bett gegangen bei dem Gedanken an all die Kinder da draußen, die unter solchen Umständen groß werden.
Weiterführende Links:
http://www.netz-und-boden.de/
http://www.promentesana.ch/publikationen/broschueren/kinder_eltern.php
http://www.manic-depressive.de/
http://www.bsne.de/
http://www.buendnis-depression.de/
http://www.wege-ev.de/
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