Die Angst vor der Angst vor dem Tod



Manchmal - ich habe es, glaube ich, in einem anderen Blogbeitrag schon einmal erwähnt - verfolgen mich bestimmte Themen im Alltag mit einer ungewöhnlichen Hartnäckigkeit. In den letzten Wochen war das das Thema Angst. Ständig bin ich wieder darüber gestolpert, in allen möglichen Variationen und Verkleidungen - in Büchern, in Filmen, in Gesprächen mit Klienten und Freunden. Wahrscheinlich ist es einfach selektive Wahrnehmung, aber manchmal hatte ich das Gefühl, dass Angst eines der dominantesten Themen (oder DAS dominanteste Thema?) für uns Menschen überhaupt ist. Und mit diesem Gefühl stehe ich, wie ich feststelle, nicht allein.

„Ich glaube“, schreibt der amerikanische Psychiater und Erfolgsautor Irvin D. Yalom im Vorwort zu seinem Buch Die Liebe und ihr Henker, „dass das primäre Thema der Psychotherapie immer Existenzängste sind - und nicht, wie oft behauptet wird, unterdrückte Triebe oder unbewältigte Tragödien im Leben des einzelnen.“ Wenn ich so an all die Menschen zurückdenke, mit denen ich im Laufe der vergangenen Jahre psychotherapeutisch gearbeitet habe, und an all die Freunde und Freundinnen, mit denen ich ganz privat bei einem Glas Rotwein nächtelang allerlei Probleme gewälzt habe, dann kann ich nur sagen: das glaube ich mittlerweile auch. Die Existenzangst ist ein Meister in Sachen Verkleidung; sie kommt in den unterschiedlichsten Gewändern daher und ist auf den ersten Blick deshalb meist nicht zu erkennen, oft nicht mal auf den zweiten oder dritten. Aber grab lange genug und tief genug, und du wirst früher oder später bei ihr landen, egal, welchen äußeren Anschein sie sich gibt.

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Manchmal sieht sie aus wie ein ganz ordinäres Beziehungsproblem, manchmal wie eine Depression, manchmal wie eine Spinnenphobie und manchmal wie ein Burnout-Syndrom. Sie ist wirklich sehr erfinderisch, was ihre äußere Gestalt angeht - oder sollte ich vielleicht besser sagen: wir sind sehr erfinderisch? Denn natürlich sind wir es, die sie in diese unterschiedlichen Verkleidungen stecken. Statt zu sagen: „Ich habe festgestellt, dass ich sterblich bin und ich komme mit dem Gedanken an meinen Tod nicht zurecht“, sagen wir lieber: „Ich habe Angst vor engen Räumen und kann deshalb nicht Fahrstuhl fahren“ oder: „Ich habe Angst, dass mein Partner mich verlassen will“. Wieso eigentlich?

Es gibt einen in meinen Augen unglaublich klugen Text von Stephen King, dem Horrorautor, mit dem Titel „Warum lesen wir phantastische Geschichten?“ Er beantwortet darin die Frage, die ihm immer wieder von Interviewern gestellt wird: „Warum lesen Leute so was?“ „So was“ bedeutet in diesem Fall: Geschichten, die überwiegend von Tod und Schrecken handeln, Geschichten, die einen nachts aus Alpträumen hochschrecken lassen, oder die die Stromrechnung in unvermutete Höhen treiben, weil man nach der Lektüre doch lieber mit eingeschalteter Beleuchtung schlafen geht ... nur sicherheitshalber, wegen diesem Ding unter dem Bett ...

„Und ich bin der Ansicht“, schreibt King in diesem Text, „dass, wie alle Kopulation letztlich der Selbsterhaltung dient, alle Furcht letztlich dem Begreifen unseres unabwendbaren Todes dient. Es gibt die alte Geschichte über die sieben Blinden, die sieben verschiedene Teile eines Elefanten zu fassen bekommen. Einer von ihnen meinte, er hätte eine Schlange, ein anderer, er hätte ein riesiges Palmenblatt, ein dritter, er würde eine steinerne Säule berühren. Als sie ihre Beobachtungen dann zusammentrugen, stellten sie fest, dass es ein Elefant war. - Furcht ist die Emotion, die uns blind macht. Vor wie vielen Dingen fürchten wir uns? Wir fürchten uns, das Licht anzuknipsen, wenn wir nasse Hände haben. (..) Wir fürchten uns vor dem, was der Arzt uns nach der Röntgenuntersuchung sagt; und genauso, wenn das Flugzeug plötzlich in ein Luftloch sackt. Wir fürchten uns davor, dass es mit dem Öl zu Ende geht, mit dem Trinkwasser, mit dem guten Leben. (..) Furcht macht uns blind, und wir nähern uns unseren Ängsten mit all der epischen Neugier des Selbstinteresses, indem wir versuchen, aus den Hunderten verschiedenen Ängsten auf das Ganze, die eine große Angst zu schließen, genau wie die Blinden mit dem Elefanten. Wir bekommen so langsam einen Eindruck von der Gestalt der Sache. Kinder erfassen sie leicht. Die Sache ist da, und die meisten von uns kommen früher oder später zu der Erkenntnis, womit wir es bei ihr zu tun haben: Es ist die Gestalt eines Körpers unter einem Tuch. All unsere Ängste zusammen ergeben die eine große Furcht, all unsere Ängste sind Teil dieser einen Furcht - ein Arm, ein Bein, Finger, ein Ohr. Wir haben Angst vor dem Körper unter dem Tuch, dieser stummen, reglosen Gestalt. Es ist unser Körper. Und die große Anziehungskraft der unheimlichen Fantastik war zu allen Zeiten, dass sie uns als Probeaufführung unseres eigenen Todes dient.“

Eine ziemlich brillante Analyse des Themas Angst, wie ich finde. (Nun ja, wahrscheinlich hätte er auch nicht so viel Erfolg als Autor gehabt, wenn er nicht ganz genau wüsste, wovon er da redet.) Die Angst, die allen unseren anderen Ängsten zugrunde liegt, ist die Angst vor dem Tod. Der schon erwähnte Psychiater und Autor Yalom differenziert die Sache noch etwas weiter aus: „Mein therapeutisches Vorgehen bei jedem dieser zehn Patienten [von denen sein oben erwähntes Buch handelt - Anm. d. Autorin] ging immer von der Grundannahme aus, dass diese Angst in erster Linie vom bewussten oder unbewussten Bemühen der Menschen herrührt, mit den unausweichlichen Tatsachen des Lebens, den Grundlagen der Existenz fertig zu werden. Meiner Meinung nach sind vier existenzielle Grundtatsachen in der Psychotherapie besonders relevant: die Unausweichlichkeit des Todes für jeden von uns und für die, die wir lieben, die Freiheit, unser Leben nach unserem Willen zu gestalten; unsere letztendliche Isolation und schließlich das Fehlen eines erkennbaren Lebenssinns.“

Tja, das sind ja nun auch nun wirklich Ängste, die ihren Namen verdienen, wie ich meine. Allein das „Sein zum Tode“, wie Heidegger das genannt hat, reicht ja eigentlich schon völlig, um einen ohne weitere Umwege in den Wahnsinn zu treiben. Da sind wir nun also, wir armen Menschen mit unserem überdimensionierten Gehirn und unserem Selbst-Bewusstsein, das als Abfallprodukt dieser Evolution irgendwann entstanden ist und das uns - zumindest, soweit wir wissen - unerbittlich von allen anderen Lebewesen auf der Welt isoliert, weil wir uns als einzige unserer Endlichkeit bewusst sind und trotzdem irgendwie weiterleben müssen. Eigentlich ein nicht leistbarer Spagat, der unsere geistige Gesundheit ohne Zweifel sehr gefährden würde, wenn wir nicht jede Menge Strategien entwickelt hätten, damit umzugehen und diese allgegenwärtige Angst vor dem Tod in Schach zu halten.

Wir flüchten uns in Religionen und esoterische Kuschelecken, wo wir uns mit dem Gedanken trösten, dass der Tod eben keineswegs das Ende ist. Wir verschanzen uns hinter der Idee, dass es eine höhere Macht gibt, die uns erretten wird. Und die meisten von uns spalten das Bewusstsein um die eigene Endlichkeit und den damit verbundenen Schrecken einfach komplett ab. Ja, andere sterben. Ja, im Kopf weiß ich, dass ich auch einmal sterben werde - aber ich glaube es nicht wirklich. Denn wenn ich es wirklich glauben würde, wenn die Erkenntnis jede Faser meines Körpers und meines Geistes durchdringen würde, wenn die Dämme, die mein Unbewusstes sorgfältig um dieses Wissen errichtet hat, brechen würden, dann würde ein Tsunami aus Angst mich einfach mit sich wegspülen. Dann wäre normales Denken, In-den-Tag-Hineinleben, Planen, Lachen, Genießen, Arbeiten, Lieben und überhaupt das ganz alltägliche Funktionieren plötzlich nicht mehr möglich. Oder?

Aber manchmal sind die Dämme nicht hoch und dicht genug. Dann überfluten entweder die Wellen von außen die Barriere - wenn wir selbst in eine lebensbedrohliche Situation geraten zum Beispiel oder wenn jemand, der uns nahe steht, stirbt. Es kann danach ganz schön schwierig sein, sie wieder abzudichten. Oder die Wellen von innen werden zu hoch - wenn der Deich aus irgendwelchen Gründen leck geschlagen ist. Dann beginnt die Angst in kleinen Rinnsalen nach außen zu sickern und sichtbar zu werden, in Form von psychischen Problemen welcher Art auch immer. Und wir fangen an, hektisch die Löcher abzudichten. Wir erziehen an unserem Partner herum, damit er sich endlich „richtig“ verhält, um uns glücklich zu machen oder stürzen uns am besten gleich in eine Affäre mit einem neuen. Wir bekommen (noch) ein Kind. Wir schlucken Antidepressiva und angstlösende Medikamente oder absolvieren ein Trainingsseminar gegen Flugangst. Wir schließen noch eine Lebensversicherung ab, kaufen ein größeres Haus und fliegen dieses Jahr mal auf die Malediven in Urlaub. Wir laufen von Arzt zu Arzt und unterziehen uns jeder nur denkbaren Vorsorgeuntersuchung, die es gibt - und selbstverständlich ernähren wir uns nur noch makrobiotisch-vegan dabei. Wir beginnen mit Mitte Fünfzig für den ersten Marathonlauf unseres Lebens zu trainieren oder begeben uns direkt in die Hände von Schönheitschirurgen. Wir denken positiv und gehen Cartier-Uhren und Gucci-Handtaschen shoppen. Alles, alles - nur um diese Rinnsale von Angst einzudämmen, die sich leise, aber unbarmherzig durch unsere Schutzwälle fressen und diese Stimme in uns zu übertönen, die uns daran erinnert, dass wir mit jedem Schlag unseres Herzens weiter auf die dunklen Wasserfälle zutreiben, denen keiner von uns entkommen kann. Ingeborg Bachmanns Gedicht „Reklame“ hat das, wie ich finde, sehr eindrücklich eingefangen:

„Wohin aber gehen wir ohne sorge sei ohne sorge wenn es dunkel und wenn es kalt wird sei ohne sorge aber mit musik was sollen wir tun heiter und mit musik und denken heiter angesichts eines Endes mit musik und wohin tragen wir am besten unsere Fragen und den Schauer aller Jahre in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge was aber geschieht am besten wenn Totenstille eintritt“

Ja - was aber geschieht, wenn wir es einmal zulassen, dass Totenstille eintritt? Wenn wir aufhören, so zu tun, als ginge das alles ewig so weiter und als beträfe uns der Tod nicht wirklich? Wenn wir die Spiegelfechtereien sein lassen, hinter denen wir uns verstecken? Wenn wir nicht länger behaupten, da sei dieses riesige Palmenblatt (der „unwillige“ Partner), diese Schlange (die Aufzugsangst) oder diese steinerne Säule (die Depression), wegen der wir Probleme in unserem Leben hätten, und wenn nur die Schlange oder die Säule erst aus dem Weg wären, dann wäre alles gut? Wenn wir das große Ganze, das sich hinter den ganzen kleinen und großen Allerweltsängsten - „normalen“ wie pathologischen - in Wirklichkeit verbirgt, akzeptieren und uns mit ihm auseinandersetzen würden, statt es beharrlich zu leugnen wie kleine Kinder, die meinen, wenn sie sich die Augen zuhielten, würden sie unsichtbar?

Dann könnten wir vielleicht aufhören zu sagen: „Ich habe Angst, dass mein Partner mich verlässt und ich alleine bin“ - „Ich habe Angst, meinen Arbeitsplatz zu verlieren“ - „Ich habe Angst, durch Tunnels zu fahren“ - „Ich habe Angst, Krebs zu bekommen“ - „Ich habe Angst vor Schlangen“. Und könnten uns endlich der echten Angst stellen, die hinter all dem steht und die mit Tunnels, Partnern, Schlangen und Arbeitsplätzen wenig zu tun hat, weil sie viel umfassender ist und den Kern unserer ganzen Existenz betrifft. Dann könnten wir auch anfangen, nach einer Antwort auf diese existenzielle Angst zu suchen, denn die gibt es leider nicht vorgefertigt von der Stange (auch wenn diverse Heilsversprecher uns das gerne weismachen wollen), sondern sie ist hoch individuell und jeder von uns muss sie sich selbst suchen und erobern.

Die Logotherapeutin Elisabeth Lukas hat zu dieser Suche nach einer Antwort in einem ihrer vielen wunderbaren Vorträge mal gesagt: „Ängste breiten sich am ehesten in einem inhaltsleeren Leben aus. Ein Leben, bis an den Rand gefüllt mit Sinn und Werten, erweist sich ihnen gegenüber als immun. (..) Kümmern Sie sich nicht um Geborgenheit, inneren Frieden und Gelassenheit. Versuchen Sie nicht, Ihr Innenleben zu schützen. Kehren Sie zurück zur Sache, dem kostbaren Gut, in das Sie sich einst vertieft haben. Lassen Sie sich aufs Neue von einer Sache faszinieren, arbeiten Sie an einer Sache, engagieren Sie sich für eine Sache, investieren Sie Herz und Verstand in eine Sache, die es wert ist, dass sich jemand ihrer annimmt. (..) Denken Sie nicht an irgendeinen Schutz für sich selbst, ziehen Sie eine beschützenswürdige Sache auf, und es werden sich genügend Kräfte einstellen, um über ihr zu wachen.“

Ich glaube, das ist eine ziemlich gute Antwort auf die existenzielle Angst in uns allen, wahrscheinlich sogar die bestmögliche. Sie setzt nämlich nicht nur der Unausweichlichkeit des Todes etwas entgegen, sondern auch den drei anderen Grundvoraussetzungen unseres Daseins, die Yalom aufgezählt hat: der Freiheit (und damit dem Zwang), unser Leben nach unserem Willen zu gestalten; unserer letztendliche Isolation und dem Fehlen eines erkennbaren Lebenssinns. Aus dem „Muss“ zur Freiheit wird ein „Darf“ - ich darf mein Leben mit den Dingen füllen, die mir wichtig sind, die mir am Herzen liegen. Ich darf ihm auch den Sinn geben, den ich möchte, indem ich mich dem zuwende, das mir sinnvoll erscheint. Und wenn ich auch letzten Endes - wie jeder Mensch - allein bin und bleibe in diesem Leben und eines Tages auch allein sterben werde, kann ich mich doch verbunden fühlen mit allem und allen, indem ich meinem Dasein (so lange es eben dauert) den Sinn verleihe, den nur ich ihm verleihen kann. Friedrich Nietzsche forderte: „Es gibt auf der Welt nur einen einzigen Weg, den niemand gehen kann, außer dir. Wohin er führt, frage nicht. Gehe ihn.“ Elisabeth Lukas sieht das wohl ähnlich, wenn sie sagt: „Wir sind nicht die, die Fragen an das Leben zu stellen haben. Wir haben auf die Fragen des Lebens an uns zu antworten, und zwar in ver-antwortlicher Weise. Menschliche Existenz ist zwar riskierte und gefährdete Existenz, aber sie kann nie total misslingen, wenn uns bewusst bleibt, dass jeder Augenblick des Lebens heilungsträchtig ist. Und hätte ein Mensch noch so lange Perioden seines Lebens hindurch gefehlt, er könnte sich durch einen einzigen Akt der Liebe retten - im Augenblick. In dem einen, über den er verfügt: dem gegenwärtigen.“

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