Was die Terrorangst mit uns macht



Der Terroranschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo und die Geiselnahme im jüdischen Supermarkt in Paris liegen schon wieder über eine Woche zurück, aber von einer Beruhigung der Lage sind wir in Zentraleuropa gerade weit entfernt. Die Meldungen zum Thema Terror überschlagen sich weiterhin. Diese Woche der Großeinsatz im belgischen Verviers mit zwei Toten; danach dann - wenig überraschend eigentlich - die Meldung in Spiegel Online, dass ausländische Nachrichtendienste die deutschen Behörden vor möglichen Terroranschlägen auf den Hauptbahnhöfen von Berlin und Dresden sowie auf Pegida-Märsche gewarnt haben. Weltweit protestieren Muslime gegen die neue Ausgabe des Satire-Magazins; schon wieder gab es zahlreiche Tote und Verletzte bei den Ausschreitungen. Gleichzeitig nehmen Geheimdienste plötzlich an allen möglichen Ecken und Enden Europas Terrorverdächtige fest; Unternehmen durchleuchten ihre Mitarbeiter auf dubiose Aktivitäten - niemand will jetzt mehr irgendetwas riskieren. Doch gleichzeitig ist klar: Sicherheit ist eine Illusion und all das sind nur hilflose Versuche, eine Hydra zu bändigen, die nicht zu bändigen ist. Dass Paris nur der Anfang einer Eskalation der Gewalt war, deren Ende heute niemand auch nur annähernd vorhersagen kann, daran kann man eigentlich nicht mehr wirklich zweifeln. Eigentlich muss man sich als Europäer gerade nicht fragen, ob demnächst wieder irgendwo etwas passieren wird, sondern nur, wann und wo.

Es liegt mir völlig fern, die politischen und moralischen Hintergründe dieser schrecklichen Entwicklung hier zu kommentieren; dazu fühle ich mich weder berufen noch befähigt. Mich hat vielmehr ein Artikel im „Le Figaro“ vor ein paar Tagen nachdenklich gemacht, in dem eine Vermutung bestätigt wurde, die ich davor schon hatte. „Der Verkauf von angstlösenden Medikamenten und Schlaftabletten ist seit den Attentaten in Frankreich um 18,2 % angestiegen“, stand da. 18,2 % Steigerung - mehr oder weniger über ein Wochenende: von Freitag bis Dienstag. „Wir haben noch nie ein derartiges Phänomen beobachtet“, kommentiert Dr. Patrick Guérin von Celtipharm. Die einzige vergleichbare Situation, an die er sich erinnert war die Katastrophe von Fukushima im März 2011, in deren Folge der Verkauf von Jod (zur Vorbeugung von Schäden bei radioaktivem Niederschlag) sich sprunghaft verdreifachte.

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Ich bin nicht sicher, ob für andere europäische Länder vergleichbare Statistiken existieren. Ich könnte mir aber gut vorstellen, dass es auch jenseits der französischen Grenzen bereits vergangene Woche messbare Effekte gegeben hätte, hätte man sich dafür interessiert. Ganz abgesehen von den - in Frankreich und anderswo - eben nicht messbaren Effekten auf die psychische Verfassung der Menschen. Denn diejenigen, die entweder ohnehin bereits vor den Attentaten in psychotherapeutischer und medikamentöser Behandlung waren (und die jetzt lediglich mehr Tabletten geschluckt haben als zuvor), und diejenigen, die in den Tagen zwischen Freitag und Dienstag neu als Konsumenten von Beruhigungsmitteln hinzugekommen sind, machen ja nur die Spitze des Eisbergs aus. Nicht jeder, der sich seit Charlie Hebdo schlaflos im Bett wälzt und grübelt, wie das alles wohl weiter gehen soll, geht gleich in die Apotheke, holt sich ein rezeptpflichtiges Medikament und wird damit automatisch Teil einer Statistik. Viele werden erst einmal so versuchen, mit ihren Ängsten fertig zu werden, oder sie greifen auf „Beruhigungsmittel“ zurück, die keine pharmazeutische Statistik erfasst: mehr Alkohol, mehr Nikotin, mehr Schokolade ... Die Dunkelziffer derjenigen, die seit Beginn dieser unseligen Gewalteskalation vermehrt mit Angstsymptomen, vielleicht auch Depressionen zu kämpfen haben, ist mit Sicherheit um ein Vielfaches höher als diese 18,2 %.

Dass die Attentate von Paris spurlos an irgendeinem von uns vorübergehen, ist nicht anzunehmen. Zu nah war das alles an unserer persönlichen Lebensrealität, zu einfach ist für uns die Identifikation mit den Opfern. Sicher, wir werden jeden Tag überschwemmt mit Bildern voll Gewalt, Entsetzen und Terror. Gerade erst wieder die Nachricht vom Boko Haram-Massaker in Nigeria mit Hunderten von Toten, ein Vielfaches der Opferanzahl von Paris. Dann die andauernden Kämpfe in der Ukraine; auch dort ständig Verletzte und Tote. Aber es fällt uns vergleichsweise leichter, mit diesen Schrecken umzugehen, weil wir uns davon mittels bewährter Strategien mittlerweile zu distanzieren gelernt haben. Je weiter weg die Gräuel, desto eher können wir sie unbeteiligt an uns vorbeiziehen lassen. Und wenn es sich um ein ausgewiesenes Kriegs- oder Bürgerkriegsgebiet handelt, erwarten wir aus dieser Gegend ja schon gar keine anderen Meldungen mehr. „Ach, das schon wieder ... haben die das immer noch nicht im Griff?“, denken wir, und blättern zur nächsten Information weiter.

Ich will damit natürlich nicht sagen, dass es moralisch in Ordnung ist, wenn wir uns für das Leid anderer weniger interessieren, weil es mit unserer täglichen Lebensrealität weniger gemein hat. Aber wir alle entwickeln notgedrungen bestimmte psychische Schutzmechanismen angesichts der vielen beunruhigenden und verstörenden Meldungen aus aller Welt, denen wir jeden Tag „dank“ unserer globalen medialen Vernetztheit heutzutage ausgesetzt sind. Unsere Psyche und unser Verstand wären sonst gar nicht in der Lage, halbwegs normal weiter zu funktionieren, wenn wir alles gleichermaßen dicht an uns heranließen. Und genau diese Schutzmechanismen scheinen bei den Attentaten von Paris und den Folgen plötzlich ausgehebelt: Das sind keine Menschen in einem weit entfernten, seit langer Zeit von Bürgerkrieg geschütteltem Land, die da gestorben sind. Das ist mitten unter uns passiert; im Herzen Frankreichs, im Herzen Europas, mitten im Frieden, mitten im Alltag. Da waren Frauen und Kinder unter den Geiseln im jüdischen Supermarkt - alle die, die dort unvorstellbare Ängste erlitten haben und auch die, die dort ihr Leben verloren haben, wollten eigentlich nur das tun, was wir alle beinahe täglich auch tun: einkaufen gehen. Sie haben morgens ihre Kinder an der Hand genommen ... vielleicht waren die quengelig, weil sie eigentlich auf den Spielplatz wollten oder zu ihren Freunden in den Kindergarten ... und sie haben gesagt: „Komm, nur ganz schnell da rein, ich brauche noch Salz und Zwiebeln fürs Mittagessen, du kriegst auch ein Eis, wenn du brav bist!“ Das hat gereicht, um sie in eine emotionale Hölle zu katapultieren, die jeder Beschreibung spottet. Wenn das mitten in Paris einfach so passieren kann - dann ist alles möglich. Eine meine Lieblingsautorinnen, Sibylle Berg, hat in ihrem Blog diese Woche geschrieben: „Sie (die Menschen) sind verwirrt über die Welt, die scheinbar oder real gerade an allen Ecken zu explodieren scheint. Da bleibt doch kein Stein auf dem anderen, und alles, was man sich für sein Leben vorgestellt hatte, scheint infrage gestellt. (..) Es gibt keine Sicherheit mehr, auch wenn sie nur angenommen war.“

Plötzlich reden Politiker und Medien allerorten von einem Krieg, in dem wir uns befinden: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt von einem „Kampf der Zivilisationen“; Le Figaro erklärt: „Uns wurde der Krieg erklärt: Der Krieg des islamischen Fanatismus gegen den Westen, gegen Europa und gegen die Werte der Demokratie. (..) Wenn es Krieg gibt, muss man ihn gewinnen“; und die BILD erkennt im Terrorattentat von Paris einen „Anschlag auf das Herz unserer Zivilisation“. Und allenthalben wird beschworen, dass jetzt Mut und Stärke angesagt seien, um dem Terror die Stirn zu bieten und die westliche Lebensart, Meinungsfreiheit und Toleranz zu verteidigen, diese Werte, auf denen unsere Gesellschaft begründet ist: „Pas de peur!“ - „keine Angst!“ riefen die Massen in Frankreich. Die BILD schreibt: „Das Einzige, was wir dagegen tun können, ist, furchtlos so zu leben, wie wir leben. (..) Der Preis dafür kann in einer Welt des Terrors immer das Leben sein, das müssen wir stets wissen. Aber wenn wir nicht bereit sind, ihn zu zahlen, sind wir auch nicht frei“. Die französische Zeitung La Croix fordert: „Wir müssen gelassen bleiben und würdevoll und dürfen nicht in Panik verfallen“, der belgische De Telegraaf behauptet energisch: „Wir lassen uns keine Angst machen.“ Das heroische Zitat von Charlie-Hebdo-Herausgeber Stéphane Charbonnier: "Ich ziehe es vor, aufrecht zu sterben als auf Knien zu leben“ ist in aller Munde. Plötzlich sind wir alle Soldaten, in einem Krieg, den so wohl niemand wirklich hat kommen sehen, ob wir wollen oder nicht, angehalten, unser Freiheit furchtlos zu verteidigen.

Wirklich?

So bewegend und beeindruckend ich den Trauermarsch von Paris und die zahllosen Solidaritätsbekundungen weltweit fand; so sehr mich die Flut von „Je suis Charlie“-Statements überall berührt hat; und so sehr ich all die bewundert habe, die in diesen Tagen des Schreckens Ruhe und Festigkeit demonstrieren konnten - ich zweifle daran, dass wir alle derart gelassen und seelisch stark sind, wenn wir allein im stillen Kämmerlein sitzen. Ich bezweifele, dass wir einfach so zur Tagesordnung übergehen können (und sollten!), nach dem, was passiert ist. Speziell Menschen, die ohnehin schon mit Angststörungen oder Depressionen zu kämpfen hatten, ehe die Terroristen zuschlugen, dürften von den Ereignissen häufig weiter destabilisiert worden sein. Aber auch viele Menschen, die bisher keine diesbezügliche Probleme hatten, bemerken jetzt vielleicht eine nervöse Anspannung oder Unruhe oder sogar handfeste Angstsymptome an sich: Schlafstörungen, unangemessen heftige Reaktionen auf Stresssituationen, eine unterschwellige Gereiztheit, Konzentrationsprobleme ... was auch immer.

Ich halte es für wichtig, dass wir uns mit diesen Gefühlen jetzt ehrlich auseinandersetzen, zwar ohne sie zu pathologisieren - jetzt mit der Gießkanne die Diagnose „posttraumatische Stressreaktion“ über die Hälfte der europäischen Bevölkerung auszuschütten, wäre sicher verkehrt - aber eben auch ohne sie zu verniedlichen oder zu negieren. Und die Gefahr besteht, angesichts all der mehr oder weniger dramatischen Appelle an unsere staatsbürgerliche Pflicht, im Angesichts des Terrors jetzt erst recht besonders angstfrei und mutig durchs Leben zu schreiten. Standfestigkeit ist sicherlich richtig, aus einer globalen politischen Perspektive heraus, sonst hätte der Terror sein Ziel der Einschüchterung ja erreicht. Das heißt aber nicht, dass jetzt jeder Einzelne in seiner subjektiven Situation ignorieren sollte, wenn er sich seit den Attentaten von Paris beunruhigt oder verängstigt fühlt. Und man sollte sich für solche Gefühle auch nicht schämen - die Statistiken über die Beruhigungsmittelverkäufe in Frankreich signalisieren sehr deutlich, dass man mit diesen Gefühlen alles andere als alleine da steht. Nur geben das die wenigsten öffentlich zu - auf Facebook macht es sich einfach besser, ein „Je suis Charlie“-Logo zu teilen, als zu bekennen, dass man nachts nicht mehr ruhig schlafen kann seit den Attentaten oder Angst hat, einen Supermarkt oder Bahnhof zu betreten.

„Was nützt die Verhöhnung der German Angst, die Aufzählung der objektiven Fakten, der angebliche Wohlstand Deutschlands, die relative Sicherheit Europas, wenn sie so nicht empfunden wird? Wenn das Gefühl auf Alarm geschaltet ist, die Synapsen Todesangst vermitteln?“, schreibt Sibylle Berg in ihrem Blog. Nichts nützt all das - und genau das ist das Problem. Seine Gefühle wegzurationalisieren oder einfach so zu tun, als wäre alles wie vorher, ist jetzt nicht die Lösung. Für viele Menschen wird es genügen, sich mit Angehörigen und Freunden über ihre Ängste zu unterhalten, um diese zu verarbeiten und einen Weg zu finden, mit ihnen fertig zu werden. Aber - und das ist es, worum es mir heute eigentlich ging - wenn das bei dir nicht der Fall ist; wenn bei dir die Attentate von Paris aus welchen Gründen auch immer tiefere Spuren hinterlassen haben, dann solltest du das ernst nehmen und dir im Zweifel professionelle Hilfe bei der Bewältigung dieser Ereignisse holen. Das ist kein Zeichen von Schwäche, das ist ein Zeichen von Stärke und Verantwortungsbewusstsein für dich selbst. Denn wir sind vielleicht alle Charlie - aber wir sind auch und vor allem alle Menschen. Keine Soldaten.

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