Von Plüschfröschen und Silberhochzeits-Scheidungspaaren



Als wir Anfang des Monats in Las Palmas unterwegs waren, habe ich mir im Vorbeigehen die erste Ausgabe des „Spiegel“ 2012 gekauft. Eigentlich weil mich das Titelthema - Optimismus - interessierte. Auf Seite 45 bin ich dann aber über eine Geschichte gestolpert, die mich wieder mal ins Grübeln gebracht hat. Überschrieben war sie mit „Der verlorene Sohn - Warum ein Ehepaar aus Bayern ein Kuscheltier bergen ließ“.

Die Protagonisten: Ein Ehepaar in den mittleren Jahren und ein Plüschfrosch, der vor 20 Jahren anlässlich eines Schulbasars von ihnen für drei Mark erworben worden war. Die Geschichte in aller Kürze: Vater, Mutter, vier Kinder - Familienleben wunderbar, Kinder werden groß, gehen aus dem Haus, Eltern bleiben zurück, Empty-nest-Syndrom schlägt unerbittlich zu. Die Eltern (vor allem die Mutter, die als Hausfrau beschrieben wird), fallen in Sinnkrise und Depression. Der Frosch wird in dieser Situation zu einer Art Allround-Alltagshelfer: eine kuriose Mischung aus Paartherapeut (Zitat: „Er [der Vater] verstellte seine Stimme und ließ den Frosch all das sagen, was er selbst verlernt hatte. An manchen Tagen nahm auch sie [die Mutter] den Frosch, verstellte ihre Stimme und ließ den Frosch sagen, was sie schon lange nicht mehr sagte.“) und Kind/Haustierersatz (Zitat: „Der Frosch bekam bald feste Plätze, einen am Kachelofen, einen auf einer Schachtel, die mit Frottee bezogen war, am Küchentisch, und einen im Auto, in einem Körbchen in der Mittelkonsole.“). Der nächste Schritt ist relativ logisch - der Frosch darf auch mit auf Reisen und wird vor den jeweiligen örtlichen Touristenattraktionen fotografiert (wir erinnern uns an den Gartenzwerg aus „Die fabelhafte Welt der Amelie“?). Bei einem Bayern-Wanderurlaub, genauer gesagt: auf der Hinteren Goinger Halt passiert es dann: Der Frosch wird während seines obligatorischen Fototermins von einer Windböe erfasst und in eine Schlucht gestürzt. Unerreichbar für Otto Normalverbraucher und damit auch das Ehepaar.

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Ob ich über den Schritt, zu dem das Ehepaar sich dann entschloss, eher lachen oder eher weinen soll, weiß ich, wenn ich ehrlich bin, noch immer nicht so genau: Für 225 Euro Tagessatz engagierten sie einen Bergführer, der sich in die Spalte abseilte und den Plüschfrosch tatsächlich retten konnte. 225 Euro legten sie noch mal freiweillig als Finderlohn auf sein Honorar oben drauf, eine weitere Spende von 450 Euro ging nach Afrika, „weil sich die Kinder dort so freuen sollten wie sie.“ Ende gut, alles gut?

Einerseits sicher schon. Fröschchen ist wieder da, wo es hingehört und offensichtlich ja seit Jahren gute, beziehungsstabilisierende und stimmungsaufhellende Arbeit leistet. Der Bergführer wird sich gewundert haben, aber nun gut, er hat ja nicht schlecht an der Sache verdient und hat jetzt immer was Lustiges am Stammtisch zu erzählen. Die Kinder in Afrika freuen sich bestimmt auch mit. Wäre das Ganze ein Kinderfilm fürs Nachmittagsprogramm, könnte man zufrieden auf den Abspann warten. Allerdings handelt es sich um das echte Leben, und da scheint mir doch die eine oder andere Frage offen zu bleiben.

Mir liegt es fern, den Wert von Symbolen ins Lächerliche zu ziehen - ich habe oft genug in Therapien mit ihnen gearbeitet, ihren Wert für die Paaridentität und auch für den einzelnen Menschen beschworen und auch persönlich nutze ich sie gerne und oft. Ich glaube, sie sind für uns Menschen in vieler Hinsicht sehr wichtig, oft vielleicht tatsächlich fast unverzichtbar. Ein Ring kann ein Ring sein - oder aber aber ein Versprechen für ein ganzes Leben werden. Ein Anhänger mit einem Aventurin kann ein Anhänger sein - oder der Schlüssel zur eigenen inneren Kraft und Ruhe werden. Und ein Plüschfrosch kann ein Plüschfrosch sein - oder eben das Symbol für wiedergefundene Lebensfreude und Beziehung werden. Als solches kann er selbstverständlich eine vollkommen andere Bedeutung und einen hohen Stellenwert bekommen. Und mein lachendes Auge freut sich deshalb sehr über die Geschichte - einmal über die Kreativität, die das Paar im Vorfeld entwickelt haben muss, um mithilfe eines kleinen Plüschfroschs wieder Bewegung in sein Leben und in seine Beziehung zu bringen und wieder besser miteinander in Kontakt zu kommen. Und zum anderen über die Geschichte an sich, denn schließlich ist sie ja nicht nur kurios, sondern sie hat auch ein Happy End.

Mein weinendes Auge ist nicht ganz so zufrieden. Ein Symbol ist ein Symbol - wichtig, ohne Frage, aber es ist nicht die Essenz dessen, was es symbolisiert. Oder zumindest sollte es die nicht sein. Der Verlust des Symbols darf nicht gleichbedeutend sein mit dem Verlust dessen, was es symbolisiert. Wenn man die Geschichte des Ehepaars und seines Plüschfroschs so liest, dann fragt man sich schon unwillkürlich, warum speziell dieses Symbol ihnen so unersetzlich erschienen sein muss. Hatten sie Angst, dass mit dem Kuscheltier auch all das, wofür es stand und was es bei ihnen an positiven Veränderungen bewirkt hatte, in dieser Felsspalte verschwunden sein könnte? Haben sie ihrer vor nicht allzu langer Zeit erst mühsam zurückeroberten Paaridentität (noch) nicht genügend getraut, nicht geglaubt, dass diese auch ohne den Frosch weiter funktioniert hätte? „Mit ihm sind wir wieder eine Familie, wissen Sie? Wir sind zu dritt.“ Das ist ein Zitat des Vaters und Ehemanns, mit diesem Satz endet der Artikel und schlägt zugleich den Bogen zurück zur Überschrift: „Der verlorene Sohn“. Und beantwortet vermutlich ein bisschen die Frage, warum dieser Frosch unbedingt wieder aus seiner Felsspalte gefischt werden musste, egal wie.

Das „Dritte“ in Beziehungen ist ein Element, dem viele Paare zu wenig Beachtung schenken. Erst, wenn es plötzlich nicht mehr da ist, fällt ihnen auf, dass mit seinem Verlust alles ins Wanken geraten kann. Eine Partnerschaft beginnt in den meisten Fällen als Dyade, als Beziehung zwischen zwei Personen. Wenn man sich diese Dyade nun vorstellt wie zwei Säulen, auf denen ein Brett ruht, dann wird schnell klar, dass diese Konstruktion bis zu einem gewissen Grad ein wackliges Fundament darstellt. Es kann relativ leicht aus dem Gleichgewicht geraten und umstürzen. Viel stabiler wird die Angelegenheit, wenn man den zwei Säulen eine dritte hinzufügt und alle Säulen mit einem Dreieck verbindet. Aus der Dyade ist eine Triade geworden; ein viel tragfähigeres und belastbareres Konstrukt als zuvor das Brett auf seinen beiden Säulen.

In vielen Partnerschaften schaffen sich die Partner früher oder später ganz instinktiv und ohne über solche theoretischen Modelle nachzudenken ein gemeinsames Drittes Element, das ihre Dyade stabilisiert. Sehr oft sind das „Dritte“ Kinder, manchmal auch ein gemeinsames Haus, ein gemeinsames Lebensziel, etwas, wofür beide Partner sich engagieren. Das „Dritte“ schafft Gemeinsamkeit, verbindet, liefert Gesprächsstoff, etabliert gemeinsame Verantwortung und Verpflichtung, sorgt für zusammen erlebte Freuden, Sorgen und Erfolgserlebnisse. Damit ist es ein wichtiger Teil dessen, was man Paaridentität nennt: Wer sind wir, was zeichnet uns als Paar aus und macht unsere Beziehung besonders? Was verleiht unserer Partnerschaft einen Sinn, der über uns beide hinausweist? Was transzendiert uns als Paar?

Diese Transzendenz, das über die eigene Person und auch das Paar hinausweisende Element könnte man auch als „Zukunftssinn“ bezeichnen. Kinder liefern einem Paar diesen Zukunftssinn quasi frei Haus - ein großes Glück einerseits, aber auch, wie man am Beispiel der Plüschfroscheltern leicht erkennen kann, manchmal auch eine große Gefahr: Leicht übersehen Paare, die sich in ihrem Zukunftssinn ausschließlich oder auch nur vorwiegend auf das Elternsein konzentrieren, nämlich zwei Probleme dabei: Erstens überfrachtet man Kinder viel zu sehr mit Erwartungen an sie und Verpflichtung den Eltern gegenüber, wenn man in ihnen den einzigen wirklichen Sinninhalt des eigenen Lebens sieht. Und zweitens vergisst man dabei nur zu gern, dass Kinder ja irgendwann das Elternhaus verlassen sollen und müssen, um ihr eigenes Leben zu führen. Wenn mit ihnen zusammen dann aber plötzlich der ganze eigene Lebenssinn seine Bücherkisten packt und frohgemut aus der Tür marschiert, dann ist man selbst vielleicht aber erst irgendwo in den Vierzigern oder Fünfzigern des Lebens - und steht dummerweise ohne Sinninhalt da.

Unsere so viel höhere Lebenserwartung bringt uns an dieser Stelle in die Bredouille: Ein 1932 geborener Mann hatte eine Lebenserwartung von knapp 60 Jahren, eine Frau dieses Jahrgangs von knapp 63 Jahren. Ein heute geborener Junge dagegen bringt es statistisch schon auf 16 Lebensjahre mehr als damals, ein Mädchen sogar fast auf 19. Diese deutlich gestiegene Lebenserwartung einerseits, aber auch die Möglichkeit der Geburtenkontrolle andererseits führen dazu, dass die Menschen viel mehr Zeit als Nur-Paar verbringen (also ohne, dass Kinder mit im Haushalt leben), als das früher der Fall war. 1950 mussten Paare es im Schnitt nur etwa 14,5 Jahre allein miteinander aushalten (bevor das erste Kind geboren wurde bzw. nachdem das letzte bereits erwachsen war). Im Jahr 2000 hat sich diese Spanne auf 26 „kinderfreie“ Jahre fast verdoppelt. Und wie unser Plüschfroschelternpaar deutlich zeigt, ist es für sehr viele Paare nicht einfach, von ihrer langjährigen Elternrolle wieder zurückzuwechseln in die reine Paarsituation, wenn die Kinder - das gemeinsame „Dritte“, der stabilisierende Faktor, der Lebens- und Zukunftssinn - aus dem Haus gehen. Zu sehen unter anderem an einem Trend, den die Medien gern plakativ als „Scheidung nach der Silberhochzeit“ betiteln. Die süddeutsche.de schrieb dazu 2008: „Die Zahl der Scheidungen im Alter hat sich seit 1975 verdoppelt, steil steigt die Kurve seit einigen Jahren an. Ließen sich 2001 noch 12494 Paare nach dem 25. Jahr scheiden, waren es 2006 schon 19316 - das sind zehn Prozent aller Scheidungen.“ So betrachtet, ist die Rettung eines Plüschtiers aus einer Felsspalte wahrscheinlich allemal das kleinere Übel ...

Verschärfend kommt hinzu, dass die mittleren Lebensjahre für viele Menschen ohnehin diejenigen sind, in denen eine Sinnkrise wahrscheinlicher droht als zuvor: Die unmittelbare Geschäftigkeit der Zwanziger und Dreißiger, in denen alles auf Aufbau gerichtet war, ist vorbei. Das Kinder sind aus dem Gröbsten heraus oder schon auf dem Absprung in die Selbständigkeit. Das Häuschen ist gekauft, vielleicht noch nicht abbezahlt, aber man hat sich gut eingerichtet. Die ersten Freunde beginnen, bei Geburtstagsfeiern mehr über beginnende Zipperlein oder Wechseljahrsbeschwerden zu reden, als über Urlaubserlebnisse und Karrierefortschritte. Man trifft sich auf der Beerdigung eines ehemaligen Klassenkameraden, den unerwartet ein Herzinfarkt dahingerafft hat. Bei der älteren Schwester wird Brustkrebs diagnostiziert, behandelbar, aber besorgniserregend. Die eigenen Eltern werden zunehmend gebrechlicher und hilfsbedürftiger. Die Frage nach dem Warum und Wozu drängt sich angesichts all dieser „Memento mori!“-Rufe beharrlich immer wieder in den Vordergrund. Man blickt um sich und stellt fest, dass man auf einem Plateau angekommen ist: Statistisch gesehen, hat man noch die Hälfte seiner Lebenszeit vor sich - aber ab sofort wird das vor einem liegende Stück selbst im besten Falle kleiner als das hinter einem liegende sein. Wie und womit soll und will man die einem verbleibende Zeit füllen? Und mit wem? Mit einem Partner, mit dem einem nach dem Weggang der Kinder nichts (mehr) verbindet? "Wer heute 60 ist, wird fast sicher noch 20 Jahre leben. Sagten früher viele: ,Die paar Jahre halte ich noch aus', heißt es heute: ,Das tue ich mir nicht weiter an'", heißt es in dem schon erwähnten Süddeutsche-Artikel.

Was kann man also aus der Geschichte um den geretteten Plüschfrosch lernen? Vor allem sicher dies: Paare, die zusammen gern und glücklich alt werden möchten, tun gut daran, sich frühzeitig um ein gemeinsames Drittes jenseits von Kindern und Eigenheim zu kümmern. Ihre Paaridentität zu pflegen und zu stärken, jenseits ihrer Elternidentität. Nicht ausschließlich zu „Mama“ und „Papa“ zu degenerieren (ich kenne leider wirklich Paare, die sich gegenseitig so anreden!), sondern auch und vor allem „Steffen“ und „Ulrike“ zu bleiben. Ihren - individuellen und gemeinsamen - Lebenssinn nicht (nur) in den Kindern zu sehen, sondern sich daneben - individuell und gemeinsam - immer auch für andere Dinge zu interessieren, zu begeistern und stark zu machen. Individuell und gemeinsam generativ zu sein und vor allem zu bleiben, wie der amerikanische Psychoanalytiker Erik Erikson das genannt hat: schöpferisch, gestaltend, kreativ tätig sein; sich als Helfer, Lehrer, Heiler oder Mentor engagieren - kurz: sich dafür einzusetzen, dass man die Welt eines Tages ein kleines bisschen besser verlassen wird, als man sie vorgefunden hat.

Die Suche nach diesem anderen gemeinsamen Dritten auf den Tag nach dem Auszug des letzten Kindes zu verschieben, ist, das zeigt die Geschichte sehr deutlich, keine gute Idee. Denn dann wird es viel schwieriger werden und - das wage ich mal zu vermuten - in vielen Fällen sogar gar nicht mehr möglich sein, diese Gemeinsamkeit zu schaffen. Und dann steht man vielleicht eines Tages händeringend vor einer Felsspalte und muss mit viel Aufwand einen abgestürzten Plüschfrosch retten, weil an ihm die eigene Zukunft hängt. Oder findet sich doch in den Reihen der Silberhochzeits-Scheidungspaare wieder. Beides keine so schönen Aussichten, oder?

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