Schwierige Zeiten für Realisten



Schon öfter ist mir der Gedanke durch den Kopf geschossen, dass unsere moderne Welt bestimmten iPersonic Persönlichkeitstypen eher entgegenkommt als anderen. Der Leitartikel von Ursula Nuber in der aktuellen „Psychologie Heute“ hat mich wieder an dieses Thema erinnert und mich in gewisser Weise auch in meinen Überlegungen dazu bestätigt. „Die Welt ist ein unsicheres Pflaster“, schreibt sie in der Einleitung. „Auf nichts kann man sich mehr verlassen: nicht auf den Euro, nicht auf die Liebe, nicht auf Politiker, nicht auf die Sicherheit von Arbeitsplätzen.“ Und sie zitiert den Psychologen Ernst-Dieter Lantermann von der Universität Kassel, der zusammenfasst: „Moderne Lebensverhältnisse sind unsichere Lebensverhältnisse.“

Natürlich, auch frühere Generationen hatten mit unsicheren Lebensverhältnissen in verschiedenster Hinsicht zu kämpfen. Und schon Heraklit soll 500 Jahre vor Christus weise bemerkt haben, dass „alles fließt“. Veränderungen, Wandel und Erneuerung waren und sind selbstverständlich schon immer Bestandteile menschlichen Lebens und irdischer Existenz. Dennoch: unsere heutige moderne Welt stellt uns diesbezüglich schon vor ganz besondere Herausforderungen, möchte ich meinen. Zum einen ist das so, weil immer mehr Halt und Orientierung gebende Instanzen und Werte verschwinden und uns verwirrt und auf uns selbst zurückgeworfen zurücklassen. Niemand sagt uns mehr eindeutig, wie wir unser Leben zu leben haben, wie es „richtig“ geht.

Religiöse und gesellschaftliche Werte verlieren zunehmend an Bedeutung, an die Stelle fester Überzeugungen und Überlieferungen tritt ein unverbindliches „alles kann, nichts muss“. Wir können heiraten und Kinder bekommen, müssen aber nicht mehr - andererseits können wir genauso gut auch eine homosexuelle Ehe eingehen und Kinder im Reagenzglas zeugen, (fast) alles ist möglich. Wir können an ein Leben nach dem Tod und ein Jüngstes Gericht glauben, oder an die Reinkarnationslehre, oder an den Weltuntergang am 21. Dezember 2012 oder an alles gleichzeitig. Oder natürlich an gar nichts. Wir müssen selbst entscheiden, ob wir Pränataldiagnostik gut finden, Vegetarismus, Organspende, die SPD, Online-Dating oder Facebook. Eine riesige Palette an Möglichkeiten liegt jeden Tag neu vor uns, mit deren Hilfe wir uns jederzeit auch neu erfinden, neu orientieren können - niemand hat ernsthaft etwas dagegen einzuwenden. Individualismus und Selbstverwirklichung sind das Gebot der Stunde, und natürlich ist das auch in vielerlei Hinsicht ganz wunderbar und bringt uns viele lang ersehnte Freiheiten. Andererseits erzeugt so viel Freiheit ganz automatisch auch Gefühle von Unsicherheit und Angst: Denn was, wenn ich mich falsch entscheide?

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Zum anderen „fließen“ in unserer modernen Welt die meisten Dinge mit einer Geschwindigkeit, die die von Heraklits Welt bei weitem übertreffen dürfte. Alles um uns herum ist einer dauernden Veränderung in atemberaubendem Tempo unterworfen - was heute noch stimmt, kann morgen schon falsch oder überholt sein. Ich persönlich fühle mich allein schon von den ständigen technischen Neuerungen völlig überfordert - schon wieder ein neues Handymodell, schon wieder ein anderer Flatrate-Vertrag, schon wieder ein Update für meinen Internetbrowser .... Dabei sind das vergleichsweise wenig wichtige Veränderungen, denen man sich ja auch durchaus bis zu einem gewissen Grad entziehen kann (ich habe beispielsweise immer noch kein Smartphone, weil ich durchaus nicht einsehe, dass ich ständig überall online gehen können muss oder mein kleines Leben unbedingt unentwegt per Echtzeit-Foto-Live-Berichterstattung auf Facebook dokumentiert werden sollte). Aber was ist mit den Veränderungen, denen man sich nicht entziehen kann, weil sie einen einfach überrollen?

Die Zeiten, in denen man nach der Schule einen Beruf erlernte oder studierte und in diesem Beruf dann ein Leben lang (im Fall meines Schwiegervaters sogar im selben Betrieb!) arbeitete, sind lange vorbei. Heute können die wenigsten von uns auch nur sicher sein, dass sie ihren Arbeitsplatz nächstes Jahr um dieselbe Zeit noch haben werden. Auf die Rente, von der Norbert Blüm so beharrlich behauptete, dass sie „sicher“ sei, können wir uns schon erst recht nicht mehr verlassen; ebenso wenig darauf, dass das Geld, das wir heute zur Bank bringen, morgen noch da sein und auch noch mindestens genauso viel wert sein wird wie heute. Vielleicht geht die Bank ja auch pleite, oder der Euro bricht doch noch in sich zusammen? Wer weiß? Partnerschaft und Elternschaft sind längst auch keine sicheren Häfen mehr, sondern schon in der Theorie bei den meisten Menschen mit unzähligen Fragezeichen versehen. Gerade letzte Woche erklärte mir eine junge Frau, eigentlich wolle sie ja schon gerne Kinder, aber der Gedanke, vielleicht als Alleinerziehende zu enden, schrecke sie dann doch immer wieder vom Mutterwerden ab. Und dann das Thema Gesundheit: Heute sind die bösen Fette an allem gesundheitlichen und figürlichen Übel Schuld, morgen sind es dann doch wieder die bösen Kohlenhydrate und übermorgen? Da wird sich schon eine andere Sau finden, die durchs Dorf gejagt werden kann und die mir den unbeschwerten Genuss des Mittagessens irgendwie trübt ...

„Ambiguitätstoleranz“ ist die Fähigkeit, die Psychologen für entscheidend halten, um in einer Welt voller Unsicherheit und Zweideutigkeit trotz allem gut zurecht zu kommen. „Menschen mit hoher Ambituitätstoleranz“, erklärt Nuber in ihrem Artikel „neigen nicht zum Schwarz-Weiß-Denken, sind in der Lage, Widersprüche auszuhalten, wollen nicht sofort Antworten auf offene Fragen und bewerten unklare, irritierende Informationen nicht automatisch als negativ.“ Keine guten Neuigkeiten für die „planenden“ unter unseren Persönlichkeitstypen! Um das kurz noch mal in Erinnerung zu rufen: Planende Persönlichkeitstypen hassen es, wenn ihre sorgfältige Organisation kurzfristig über den Haufen geworfen wird. Sie ziehen ein Maximum an Kontrolle über die Dinge vor, empfinden Struktur als angenehme Orientierungshilfe und sind sehr ordentliche, zuverlässige Naturen. Entscheidungen treffen sie so rasch wie möglich, denn Ungewissheit ist ihnen weitaus unangenehmer als Gewissheit. Womit wir ungefähr beim Gegenteil von Ambiguitätstoleranz angelangt wären, würde ich sagen ...

Spontane Persönlichkeitstypen dagegen sind am glücklichsten, wenn sie in ihrem Leben möglichst viele Freiheiten haben. Struktur empfinden sie als einengend und lästig. Sie tun sich schwer damit, Entscheidungen zu treffen und sich auf eine Möglichkeit festzulegen. Lieber halten sie sich alle Optionen bis zum letzten Moment offen. Weder Pünktlichkeit noch Ordnung sind ihre Stärken und Routineaufgaben ermüden sie schnell. Dafür sind sie ungemein flexibel und können sehr anpassungsfähig auf Unvorhergesehenes reagieren. Die ideale Voraussetzung also, um mit den Anforderungen unserer modernen Welt aktiv und konstruktiv umzugehen!

Am schwierigsten dürfte die aktuelle Lebenssituation vermutlich für die Realisten sein (in unserer Typologie sind dies der Verlässliche Realist, der Zielstrebige Realist, der Gutmütige Realist sowie der Fürsorgliche Realist). Neben ihrer „planenden“ Präferenz kommt bei ihnen noch die „praktische“ Präferenz dazu; und diese beiden Präferenzen in Kombination machen aus ihnen die konservativsten, pflicht- und verantwortungsbewusstesten und sicherheitsliebendsten Typen überhaupt. Ständige Veränderung ist genau das, was diesen Persönlichkeitstypus am meisten stresst; Beständigkeit und Berechenbarkeit dagegen, was er zum Wohlfühlen besonders braucht. Unserer heutige Zeit macht es Realisten deswegen wahrlich nicht einfach, glücklich und entspannt zu sein!

Eigentlich ist es eine Ironie der Evolution, dass heutzutage gerade die Realisten-Tugenden sich in vielerlei Hinsicht als eher ungünstig für ihre Lebenszufriedenheit erweisen. Denn evolutionär betrachtet war es über Jahrtausende hinweg durchaus sinnvoll, dem Unbekannten und der Veränderung gegenüber eher abgeneigt zu sein. „Den Weg da bin ich noch nie lang gegangen - das lasse ich lieber mal, wer weiß, ob er nicht an der Höhle eines Säbelzahntigers vorbeiführt und dann ende ich als Mittagessen.“ - „Die Pilze sehen zwar toll aus, aber ich kenne keinen, der die schon mal gegessen hat, also riskiere ich das lieber nicht, vielleicht sind sie ja giftig.“ Es ist also eigentlich kein Wunder, dass die Realisten prozentual betrachtet die größte Bevölkerungsgruppe stellen - ich würde mich sogar soweit aus dem Fenster lehnen zu behaupten, dass sie in gewisser Weise die „ursprüngliche“ menschliche Natur am besten repräsentieren: vorausschauend, vorsichtig, oder - wie Nuber es ausdrückt - mit einem „,kastastrophischen‘ Gehirn, das immer auf das Schlimmste gefasst ist und sich in unsicheren Lebenslagen unbehaglich fühlt“ ausgestattet. Das hat uns evolutionär wahrscheinlich oft genug den Allerwertesten gerettet und uns als Spezies überhaupt erst dahin gebracht, uns durchzusetzen.

Aber die Zeiten haben sich geändert. Säbelzahntiger sind ausgestorben und ob ich die Pilze essen kann oder nicht kann ich problemlos per Internetsuchmaschine herausfinden. Realisten-Qualitäten sind „aus der Mode“, stattdessen sind im Wassermann-Zeitalter viel mehr die Qualitäten der spontanen Persönlichkeiten gefragt und von Vorteil und als Glücksgaranten geeignet: Neugier, Offenheit, Flexibilität. Am günstigsten von Mutter Natur ausgestattet sind in dieser Hinsicht Typen wie der Spontane und der Verträumte Idealist oder der Analytische und der Innovative Denker. Aber auch die geplanten Idealisten und Denker haben es leichter als die Realisten, denn bei ihnen balanciert ihre „theoretische“ Präferenz ihre „planende“ ein wenig aus und macht sie deshalb anpassungsfähiger an Neues als die „praktisch-planenden“ Realisten. Und die Macher gehören zwar wie die Realisten zu den praktischen Typen, sind aber durch ihre stark dominierende „spontane“ Präferenz ohnehin die Flexibilitätskönige unter unseren Typen und damit für die Neuzeit ebenfalls prima gewappnet.

Zeit für unsere Realisten also, heute mal wieder den alten iPersonic-Glaubenssatz zu bemühen: Persönlichkeitsmerkmale sind Präferenzen, und Präferenzen sind - zumindest in gewissen Grenzen - veränder- und trainierbar. Auch wenn du zu den Realisten gehörst, kannst du nämlich ein bisschen was tun, um etwas „ambiguitätstoleranter“ zu werden:

Beobachte dich mal ein paar Wochen, inwieweit du zu Denken in Schwarz-Weiß-Kategorien neigst. Gibt es bei dir beispielsweise oft nur die Alternativen „perfekt“ oder „versagt“, wenn du etwas zu erreichen versuchst? Dann probiere doch mal (am besten schriftlich) diese Gedanken dingfest zu machen und gezielt durch weniger schwarz/weiße zu ersetzen. Bei nächsten Mal, wo du angesichts eines Misserfolgs beispielsweise denkst: „Ich kann mich noch so sehr bemühen, es kommt nichts dabei heraus“ ersetze das bewusst durch: „Ich habe die Situation nicht so schlecht gemeistert, auch wenn ich mich jetzt etwas unwohl fühle. Ich bin dabei, zu lernen, wie ich so eine Situation in den Griff bekommen kann. Das kann noch etwas dauern, aber das ist völlig in Ordnung. Ich bin auf dem richtigen Weg.“

Hinterfrage dein Kontrollbedürfnis öfter mal. Realisten neigen sehr dazu, auch Dinge kontrollieren zu wollen, die überhaupt nicht in ihrer Macht liegen (beispielsweise das Wetter am Wochenende oder die Stimmung anderer Menschen um sie herum) und sich dann sehr zu quälen, wenn ihnen das nicht gelingt. Frag dich immer wieder: „Liegt das, was mich da ärgert / beunruhigt überhaupt in meinem persönlichen Einflussbereich? Zu wie viel Prozent?“ „Die Erwartung, Unkontrollierbares kontrollieren zu können, ist ein großer Feind der Gelassenheit“, konstatiert Nuber ganz zu Recht. Am besten hängst du dir zur Erinnerung das Gelassenheitsgebet von Reinhold Niebuhr zur Erinnerung an den Kühlschrank: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Riskiere in „ungefährlichen“ Situationen öfter mal das Unbekannte. Will heißen: wenn nicht so viel auf dem Spiel steht, dass dich allein der Gedanke in Panik stürzt, mach mal das, von dem du nicht weißt, wohin es führt, ganz bewusst! Bestell im Restaurant das Essen auf der Speisekarte, das du noch nie probiert hast und unter dessen Beschreibung du dir absolut nichts vorstellen kannst (ohne es dir vorher vom Kellner erklären zu lassen!). Nimm mal einen völlig anderen Weg zur Arbeit als deinen gewohnten. Geh in einen Film oder ein Theaterstück, das dir völlig exotisch und außerhalb deiner sonstigen Vorlieben erscheint. In solchen Situationen riskierst du nicht mehr, als ein nicht so toll schmeckendes Abendessen oder zwei Stunden Langeweile, kannst aber unter Umständen die Erfahrung machen, dass Neues oft auch überraschend toll und bereichernd für dein Leben sein kann.

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