Kinder brauchen Märchen - Ein Plädoyer für den Weihnachtsmann



Dieser Tage hatte ich eine Unterhaltung mit einer sehr lieben Freundin und Kollegin, die gerade sehr mit sich selbst haderte. Anlass dafür war der diesjährige sechste Dezember gewesen - traditionell der Tag in ihrer Familie, in der ein Nikolausfest mit Freunden gefeiert wurde. Der Nachbar meiner Freundin spielte seit Jahr und Tag bei dieser Gelegenheit den Nikolaus für ihre beiden Kinder (die heute übrigens acht und sechs Jahre alt sind). Der ältere Sohn wurde nun zunehmend misstrauischer, denn ihm war aufgefallen, dass der Nachbar seit Jahr und Tag immer ausgerechnet zu dieser Feier aufgrund dringender Termine "zu spät" erschien und dadurch jedes Mal den Auftritt des Nikolaus "verpasste". "Ich wette, den Nikolaus gibt es gar nicht, das ist bestimmt der Christian von nebenan!", erklärte er seiner kleinen Schwester wichtig. Meine Freundin wollte vor allem ihrer jüngeren Tochter die Illusion noch gerne ein bisschen aufrecht erhalten, und so sprang dieses Jahr der Mann einer Bekannten ein und warf sich ins Nikolauskostüm. "Siehst du, der Nikolaus ist gar nicht der Christian!", triumphierte die Kleine daher, als es dieses Jahr wieder am 6. Dezember an der Tür klopfte, denn diesmal war Christian ganz überraschend pünktlich zur Feier erschienen und saß mit am Tisch, als der Nikolaus eintrat. Der Große war zunächst verblüfft, geriet ins Grübeln, nahm den Nikolaus näher in Augenschein - und rief plötzlich: "Ich kenn' dich, du bist doch der Mann von ..." Meine Freundin zog ihn beiseite und bat ihn, seiner kleinen Schwester den Spaß nicht zu verderben, sie werde später mit ihm über alles reden. Nachdem die Feier vorbei war, setzte sie sich mit ihm zusammen und gestand, dass er Recht gehabt habe und der Nikolaus der Ehemann der Bekannten gewesen sei. Ihr Sohn sah sie einen Moment lang an, dann füllten sich seine Augen mit Tränen: "Mama, aber dann war ja der Nikolaus jedes Jahr gar nicht echt?" "Nein", gab sie zu, "in früheren Jahren war das der Christian, wie du es dir schon gedacht hast." 

Als mir meine Freundin die Geschichte erzählte, hatte sie selbst Tränen in den Augen, so sehr hatte sie die Reaktion ihres Sohnes berührt. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie ihm nicht früher die Wahrheit gesagt hatte und machte sich Sorgen, was diese Erfahrung nun für Schaden bei ihm hinterlassen habe - schließlich hatte er gerade entdeckt, dass seine Eltern ihn jahrelang angelogen hatten, oder? Und hatte sie selbst nicht vor ein paar Tagen erst eine kleine Predigt darüber losgelassen, dass er sie nicht anschwindeln solle, wenn er etwas angestellt hatte? Hätte sie überhaupt jemals mit diesem ganzen Zinnober anfangen sollen? Sie hatte es gut gemeint - hatte sie es falsch gemacht?

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Mich ließ diese Frage eine ganze Weile nicht los. Ich erinnerte mich daran, wie mein Bruder - ein waschechter Alt-68er mit den entsprechenden Ansichten zu Erziehung, Märchen und Weihnachtskommerz - damals bei seinem ersten Sohn verfahren war: Lukas ging in einen alternativen Kindergarten, wo man von Mystifizierungen und dergleichen wenig hielt. Die Kinder hatten aber natürlich alle auch Kontakte zu Kindern aus "konventionelleren" Elternhäusern, und begannen sich zunehmend zu beschweren, weil sie mitbekamen, dass bei anderen Kindern am sechsten Dezember morgens gefüllte Stiefel vor der Tür standen oder der Nikolaus Geschenke in den Kindergarten gebracht hatte. Warum nicht bei ihnen?, fragten sie. Die Eltern setzten sich angesichts dieses moralischen Dilemmas zusammen und beschlossen folgende Lösung: Einer der Zivis, die im Kindergarten arbeitete, kam am 6. Dezember mit dem Nikolauskostüm unter dem Arm in die Gruppe, zog sich im Beisein der Kinder das Kostüm an, verteilte die Geschenke und zog sich dann anschließend wieder im Beisein der Kinder um. So, das war die Idee, sollten die Kinder klar erkennen, dass das Ganze nur eine Scharade darstellte, und vor "schädlichen" Mythen bewahrt werden. 

Ich fand das Ganze damals schon albern, und der vierjährige Lukas zeigte mir, dass ich Recht hatte. Kurz vor Weihnachten waren meine Mutter und ich mit ihm gemeinsam in einen Baumarkt gefahren, um einen Weihnachtsbaum auszusuchen. Plötzlich kam dort ein Nikolaus auf uns zu und drückte allen vorbei kommenden Kindern kleine Säckchen mit Süßigkeiten in die Hand - natürlich auch Lukas. Der nahm das Säckchen, schaute dem weiter gehenden Spender hinterher, und nach einer ganzen Weile des Stillschweigens strahlte er plötzlich meine Mutter an: "Oma, vielleicht war das jetzt gerade doch der ganz echte Nikolaus?!"  

"Kinder brauchen Märchen" heißt ein Buch des berühmten Kinderpsychologen Bruno Bettelheim, das ich dieser Tage anlässlich meiner Überlegungen wieder mal aus dem Regal gezogen habe. Er schreibt darin unter anderem: "Das Kind fragt sich: Wer bin ich? Wo komme ich her? (..) Es denkt darüber nach, wer oder was es in eine missliche Lage gebracht hat und was es davor schützt, dass ihm so etwas zustößt. Gibt es außer den Eltern gütige Mächte? (...) Gibt es Hoffnung, auch wenn es etwas Böses getan hat? (...) Die Märchen geben Antwort auf diese drängenden Fragen, die weitgehend dem Kind erst im Lauf der Geschichte bewusst werden. Vom Erwachsenenstandpunkt und auch von der modernen Wissenschaftlichkeit aus gesehen sind die Antworten der Märchen eher fantastisch als wahr. Viele Erwachsene, denen die Weise, in der Kinder die Welt erleben, fremd geworden ist, halten die Lösungen des Märchens für so unrichtig, dass sie Kinder keiner derart 'falschen' Information aussetzen wollen. Realistische Erläuterungen sind für Kinder jedoch meist unverständlich (..). Deshalb ist es wichtig, sich stets vor Augen zu halten, dass für das Kind nur solche Aussagen überzeugend sind, die es im Rahmen seines Wissens und seines emotionalen Zustands begreifen kann. (..) Selbstverständlich kann die Vorstellung von einer beschützenden Himmelsmutter die geistige Entwicklung hemmen, wenn man ihr zu lange anhängt. Weder kindliche Projektionen noch die in der Fantasie lebendigen beschützenden Gestalten - zum Beispiel der Schutzengel, der einen behütet, wenn man schläft, oder wenn die Mutter fort ist - vermögen wahre Sicherheit zu bieten; doch solange man sich selbst noch keine völlige Sicherheit schaffen kann, sind Vorstellungen und Projektionen bei weitem der Unsicherheit vorzuziehen. Wenn diese (teilweise eingebildete) Sicherheit genügend lange erlebt wird, befähigt sie das Kind, die Zuversicht zum Leben zu entwickeln, die es braucht, um sich selbst zu trauen."

Ja, dachte ich, das ist vielleicht eine Antwort. Ich mache mir keine Sorgen um den Jungen, der da gerade die Wahrheit herausgefunden hat. Das, was ihm da plötzlich die Tränen in die Augen getrieben hat, war ganz sicher vor allem das Gefühl, gerade etwas Schönes und Geheimnisvolles seines Zaubers beraubt zu sehen - und das hinterlässt in uns Menschen nun mal ein unbestimmtes Gefühl der Trauer und des Verlusts, egal, wie alt wir sind. Peter Rosegger hat das in seinen Lebenserinnerungen, wie ich finde, mal sehr schön beschrieben. Als kleiner Junge war er mit seiner Mutter auf dem Weg zur Totenwache bei einem jungen Mädchen. Er erzählt: "Als wir auf eine kleine Lichtung kamen, stand meine Mutter still, wendete ihr Gesicht empor, hielt eine Hand über die Augen und sagte: 'Jetzt, da kann man es einmal schön sehen, das Spinnrad Unserer Lieben Frau.' Sie meinte den Mond, der ja so zarte Fäden herniederspann zwischen den Wipfeln und Ästen. Dann wendete sich die Mutter zu mir: 'Du hast gute Augen, Bub. Lug in den Mannähndl (Mond) hinein, dort drin sitzt Unsere Liebe Frau und tut spinnen. Sie spinnt ein himmlisches Kleid für das Mägdlein, das heute auf der Bahre liegt. Und guck noch ein wenig - deine Urahne sitzt auch daneben!' Wahrhaftig, da sah ich's, dort im Monde saßen zwei wunderholde Frauen beim Rocken." Viel später schenkt ihm sein Vetter ein Fernrohr, und als der Junge damit den Mond anvisiert, fragt er sich, warum er die beiden Frauen plötzlich nicht mehr sehen kann. "Dann hat mir der Vetter die Naturgeschichte des Mondes erzählt. - Was hab ich jetzt? Einen starren, toten, ausgebrannten Himmelskörper ohne Wärme, ohne Lächeln. Selbst das Licht ist nicht sein Eigentum." 

Niemand von uns kommt wohl im Laufe seines Lebens um solche Erfahrungen herum, und das ist auch gut so, denn - wie Bettelheim sagt - allzu lange in Märchen und Mythen zu verharren, steht der Weiterentwicklung natürlich im Wege. Aber bedeutet das, dass man sie schon den Kindern am besten ganz vorenthält, um ihnen die Desillusionierung zu ersparen und nicht selbst irgendwann vor ihnen als unglaubwürdig dazustehen? Wenn man diesen Standpunkt einnehmen würde, dürfte man auch keine Benjamin-Blümchen-Geschichten vorlesen und kein Rotkäppchen (denn wer hätte in der wirklichen Welt je einen Wolf getroffen, der sprechen kann?), man müsste Aschenputtel aus dem DVD-Regal und dem Bücherschrank verbannen und die "Sagen des klassischen Altertums" gleich mit. Und wie wäre es überhaupt mit religiösen Elementen? Halten die denn der kritischen Überprüfung genügend Stand - oder muss ich meinem Kind schon im Kindergarten erklären, dass die Sache mit dem 24. Dezember nur gleichsam die christliche "Kontrastveranstaltung" zu früheren heidnischen Festen rund um dieses Datum war? Ach ja - in "Star Wars" dürfen die Kids ab sofort natürlich auch nicht mehr. Ab sofort nur noch Fakten, Fakten, Fakten für Kinderohren? 

Ich glaube da nicht dran. Ich glaube nicht, dass diese Welt, die doch für uns Erwachsene schon verwirrend und Furcht einflößend genug ist, ohne ein bisschen Zauber für Kinder gut auszuhalten wäre. Nicht einmal für uns ist sie das doch oft - oder warum erlebt das so oft tot gesagte Fantasy-Genre immer wieder neue Höhenflüge? Und warum sitzen Jahr für Jahr wieder so viele ansonsten höchst erwachsene, vernünftige und rationale Menschen mit verklärtem Blick vor dem unvermeidlichen Weihnachtsfilm "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel"? Was die Sache mit dem Lügen angeht - ist es denn wirklich so, dass das, wofür der Nikolaus, das Christkind oder der Schutzengel stehen, im Kern gelogen ist? Dafür, dass es da jemanden gibt, dem das Kind wichtig ist, der es mit Liebe und Fürsorge begleitet? Der sich Gedanken macht, was es braucht und sich wünscht? Der es im Auge hat, was immer es auch tut? Der zuverlässig für es da ist (jedes Jahr wieder)? Der über Autorität und Stärke verfügt und alles daran setzt, es zu beschützen? Wenn es so jemanden im Leben des Kindes nicht gibt, dann, meine ich, hat das Kind ganz andere Probleme zu bewältigen als die Enttäuschung über einen enttarnten Weihnachtsmann. Und wenn doch, dann wird es irgendwann ganz leicht für sich begreifen, dass der Nikolaus seiner Kindheit doch echt war ... auf ganz besondere Weise. 

Der folgende Briefwechsel zwischen der kleinen Virginia O’Hanlon und dem Chefredakteur der Zeitung "Sun", Francis P. Church, stammt aus dem Jahr 1897. Er wurde über ein halbes Jahrhundert - bis zur Einstellung der “Sun” im Jahre 1950 - alle Jahre wieder zur Weihnachtszeit auf der Titelseite der Zeitung gedruckt.

Die achtjährige Virginia aus New York wollte es ganz genau wissen. Darum schrieb sie an die Tageszeitung “Sun” einen Brief: "Ich bin 8 Jahre alt. Einige von meinen Freunden sagen, es gibt keinen Weihnachtsmann. Papa sagt, was in der 'Sun' steht, ist immer wahr. Bitte, sagen Sie mir: Gibt es einen Weihnachtsmann?"

Francis Church antwortete in seinem Artikel: 
“Virginia, Deine kleinen Freunde haben nicht Recht. Sie glauben nur, was sie sehen; sie glauben, dass es nicht geben kann, was sie mit ihrem kleinen Geist nicht erfassen können. Aller Menschengeist ist klein, ob er nun einem Erwachsenen oder einem Kind gehört. Im Weltall verliert er sich wie ein winziges Insekt.

Ja, Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann. Es gibt ihn so gewiss wie die Liebe und Großherzigkeit und Treue. Weil es all das gibt, kann unser Leben schön und heiter sein. Wie dunkel wäre die Welt, wenn es keinen Weihnachtsmann gäbe! Es gäbe dann auch keine Virginia, keinen Glauben, keine Poesie - gar nichts, was das Leben erst erträglich machte. Ein Flackerrest an sichtbarem Schönen bliebe übrig. Aber das Licht der Kindheit, das die Welt ausstrahlt, müsste verlöschen. Es gibt einen Weihnachtsmann, sonst könntest Du auch den Märchen nicht glauben.

Gewiss, Du könntest deinen Papa bitten, er solle am Heiligen Abend Leute ausschicken, den Weihnachtsmann zu fangen. Und keiner von ihnen bekäme den Weihnachtsmann zu Gesicht - was würde das beweisen? Kein Mensch sieht ihn einfach so. Das beweist gar nichts. Die wichtigsten Dinge bleiben meistens unsichtbar. Die Elfen zum Beispiel, wenn sie auf Mondwiesen tanzen. Trotzdem gibt es sie. All die Wunder zu denken - geschweige denn sie zu sehen -, das vermag nicht der Klügste auf der Welt. Was Du auch siehst, Du siehst nie alles. Du kannst ein Kaleidoskop aufbrechen und nach den schönsten Farbfiguren suchen. Du wirst einige bunte Scherben finden, nichts weiter. Warum? Weil es einen Schleier gibt, der die wahre Welt verhüllt, einen Schleier, den nicht einmal die Gewalt auf der Welt zerreißen kann. Nur Glaube und Poesie und Liebe können ihn lüften. Dann werden die Schönheit und Herrlichkeit dahinter zu erkennen sein.

'Ist das denn auch wahr?' kannst Du fragen. Virginia, nichts auf der ganzen Welt ist wahrer und nichts beständiger. Der Weihnachtsmann lebt, und er wird ewig leben. Sogar in zehnmal zehntausend Jahren wird er da sein, um Kinder wie Dich und jedes offene Herz mit Freude zu erfüllen. Frohe Weihnacht, Virginia."

Dein Francis Church.


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