Genieß mal wieder!



Vielleicht hast du dich schon gewundert, dass die ganze letzte Woche von mir hier nichts zu hören und zu lesen war, aber wir haben uns doch tatsächlich seit langer Zeit mal wieder ein paar Tage Urlaub gegönnt und sind jetzt frisch erholt wieder zurück am Start. Ich habe es so richtig genossen, mal eine Woche überhaupt nichts zu tun, außer in Italien faul in der Sonne herumzuliegen, einen Krimi nach dem anderen zu schmökern und sämtliche Pastagerichte, die so im Angebot waren, rauf und runter zu futtern. Dabei ging mir ein paar Mal durch den Kopf, wie wichtig das Genießen von schönen Dingen doch für die seelische Gesundheit ist. Und das soll jetzt nicht nur eine Ausrede für eine Woche Arbeitsverweigerung sein - es gibt sogar eine ganze Therapieform, die sich mit dem Genießen beschäftigt: die euthyme Therapie (= Genusstherapie)!

Das mag jetzt erst mal merkwürdig klingen, aber vielen Menschen fällt es heutzutage wirklich schwer, sich etwas zu gönnen und so richtig von Herzen zu genießen. Das hat unterschiedliche Gründe. Zum einen leben die meisten von uns in zunehmend hektischen Lebenssituationen mit enorm vielen Verpflichtungen und Anforderungen. Zeit ist Geld! Wer kann es sich da noch leisten, in aller Ruhe zu genießen, wenn schon wieder der nächste Termin drängt und so viel Unerledigtes auf einen wartet? Schnell, schnell wird zum Mittagessen ein Brötchen (im besseren Falle) oder ein Hamburger (im schlechteren Falle) auf dem Weg von A nach B hineingeschlungen; Zeitung oder Buch werden flüchtig während der Bahnfahrt zur Arbeit durchgeblättert. Und während des Abendessens läuft nebenher schon der Fernseher. Selten sind die Momente, wo wir mit unserer Aufmerksamkeit ganz und gar auf eine genussreiche Erfahrung konzentriert sind. Zu sehr sind wir darauf geeicht, möglichst immer mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigen und möglichst viel gleichzeitig im Auge zu behalten.

Dieser Zeitdruck hat seine Wurzeln natürlich mit in der starken Leistungsorientierung unserer Gesellschaft. „Schaffe, schaffe, Häusle baue“, sagen die Schwaben - von: „gemütlich vor dem Häusle auf der Bank sitzen“ ist da nicht so die Rede. Im Stress zu sein, ist heutzutage ja schon fast ein obligatorischer Zustand, signalisiert Aktivität, Produktivität, Gefragtsein. Richtig aufgefallen ist mir das wieder mal kurz vor meinem Urlaub, als eine Klientin mir von einem knackigen Ehekrach zwischen ihr und ihrem Mann erzählte. Der Anlass? Eine Nachbarin hatte zum Mann meiner Klientin bei dessen Heimkehr abends beiläufig gesagt: „Ich hab deine Frau heute Mittag im Eiscafé in der Sonne sitzen sehen - die muss ja vielleicht Zeit haben!“ Zumindest in einem kleinen Ort wie dem unseren ist es offenbar nicht ratsam, sich am helllichten Tag beim Genießen erwischen zu lassen .. und wenn das Wetter noch so schön und die Gelegenheit noch so verlockend ist ... „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!“ und ähnlich genussfeindliche Anweisungen haben wohl die meisten von uns im Laufe ihrer Erziehung mit auf den Weg bekommen. Das „nicht dürfen“ hat selbstverständlich auch viel mit der christlichen Prägung unserer Gesellschaft zu tun: die gedankliche Verknüpfung zwischen „Genuss“ und „Sünde“ sitzt bei einem Großteil von uns ganz schön tief. Für manch einen ist es wirklich Schwerstarbeit, eine Genuss bejahende Einstellung zu entwickeln, die Überzeugungen wie „ich darf genießen“ oder „ich darf mir das gönnen“ beinhaltet.

Ein weiterer wichtiger Grund, warum vielen Menschen das Genießen schwer fällt: Sie schenken sich selbst und den eigenen Vorlieben zu wenig Aufmerksamkeit. Genießen kann man nur, wenn man weiß, was einem wirklich gut tut. Und das muss man erst mal herausfinden! Kinder haben meist ein gutes Gespür dafür, aber im Laufe der Zeit verengt sich der eigene Blickwinkel oft sehr. Im übrigen wird die ganz persönliche Wahrnehmung natürlich stark von den äußeren Einflüssen überlagert: da suggeriert einem die Werbung, was man tun, essen, trinken und haben muss, um genießen zu können; außerdem gibt es so manches, was man sich als Erwachsener vielleicht nicht mehr traut (oder wann bist du das letzte Mal so richtig mit Karacho beidbeinig in eine tiefe Pfütze gesprungen?). Und wie, um Himmels Willen, soll man einen Eisbecher mit Sahne aus tiefster Seele genießen, wenn einem von jedem Zeitschriftencover und jeder Plakatwand magersüchtige Models auf den Löffel starren?!

Nun mag der eine oder die andere einwenden, dass es ja wirklich nicht gut ist, pfundweise Schokolade in sich hineinzustopfen oder das achtundfünfzigste Paar Schuhe zu kaufen - darum geht es auch gar nicht. Eine ganz wichtige Erkenntnis in Bezug auf das Genießen lautet nämlich: Weniger ist mehr! Für den Genuss ist nicht die Menge des Genossenen entscheidend, sondern dessen Qualität. Ein Zuviel - wovon auch immer - wirkt auf uns Menschen immer irgendwann übersättigend und verliert seine Eigenschaft als angenehmes Erlebnis. „Habituation“ - Gewöhnung - ist der Begriff, den Psychologen dafür gerne verwenden. Selbst wenn deine Lieblingsspeise Erdbeeren mit Schlagsahne wären: bekämst du sie jeden Tag dreimal vorgesetzt, hättest du sie schnell über und würdest dich früher oder später sogar vor ihnen ekeln. Wie bei allem im Leben kommt es beim Genießen auf das richtige Maß an. Verzichten ist also eine ganz wichtige Voraussetzung für das Schaffen von Genuss; es ist aber ebenso wichtig, nicht im Verzichten dauerhaft hängen zu bleiben, sondern einen guten Rhythmus im Wechsel zwischen Genuss und Askese zu finden. Auch eine schwierige Disziplin heutzutage, wo „mehr, mehr, mehr!“ die allgegenwärtige Maxime ist.

Vor allem Menschen, die zu depressiven Verstimmungen neigen, sehr leistungsorientierte Personen oder Menschen mit Zwangsstörungen profitieren oft enorm von der euthymen Therapie. Aber auch Schmerzpatienten tut sie gut, denn wenn das Leben von chronischen Schmerzen überschattet ist, gerät oft alles Angenehme mehr und mehr in den Hintergrund. Und für Suchtpatienten ist sie ebenfalls ein wichtiger Baustein zur Neuorientierung, denn sie haben die Fähigkeit zum Genießen ja längst verloren, seit sie in die Abhängigkeit gerutscht sind. Eine kleine Prise euthymer Therapie sollten wir uns aber durchaus alle hin und wieder gönnen - ich kenne kaum jemanden, der sie nicht brauchen könnte! Oft werden im Zusammenhang mit dem Genießen dabei einige wichtige „goldene Regeln“ zitiert - mir widerstrebt es eigentlich, an dieser Stelle schon wieder von Regeln zu sprechen, das klingt so nach Vorschriften. „Tipps“ oder „Hinweise“ gefällt mir deshalb besser. Vielleicht hast du ja Lust, dich mit ihnen im Kopf in der kommenden Woche mal auf die Suche nach Genussmöglichkeiten in deinem ganz normalen Alltag zu machen? Hier sind sie:

1. Nimm dir Zeit zum Genießen!

Schaff dir gezielt Freiräume und plane genießerische Momente regelmäßig in deinen Tagesablauf mit ein. Genießen kann man nicht unter Zeitdruck - auch wenn manchmal ein Augenblick dafür ausreicht. Sonst überlässt du deinen Genuss alleine dem Zufall, und das ist keine gute Idee! Und in der Zeit, die du für Vorbereitungen oder auch eine Verabredung zum Genießen brauchst (sei es mit dir selbst oder jemand anderen), steckt ebenfalls schon ein wenig Genuss.

2. Gönne dir Genuss!

Hast du auch Hemmungen oder oft ein schlechtes Gewissen, wenn du dir selbst etwas Gutes tust? Dann überleg doch mal, woher das vermutlich kommt. Hast du entsprechende Verbote unter deinen „Lebensgeboten“? Von wem stammen diese? Findest du sie (noch) angemessen - oder sind auch welche dabei, von denen du dich vielleicht verabschieden kannst? Mach dir klar, dass nur derjenige, der bewusst genießt, auf Dauer leistungsfähig und ausgeglichen bleibt!

3. Genieße bewusst!

Das Glas Wein neben dem Fernseher und die Schokolade neben dem Computer sind nicht das, was mit Genuss gemeint ist. Konzentration ist angesagt. „Nebenbei“ genießen funktioniert nicht! Etwas, das dir Genuss bereitet, hat deine volle Aufmerksamkeit verdient.

4. Genieße lieber weniger, aber richtig!

Maßhalten statt eines Überangebots an Reizeinwirkungen lautet die Devise. Beschränke dich auf wenige, aber dafür umso intensivere und qualitativ hochwertigere Genusserlebnisse. Gib lieber einmal mehr Geld für eine wirklich gute Sache aus, die du dann auch in vollen Zügen genießen kannst, anstatt eine große Menge Minderwertiges zu konsumieren.

5. Trainiere deine Sinne!

Genuss hat auch mit Erfahrung zu tun. Bestimmt kennst du auch Menschen, die besonders feine Geschmacks- oder Geruchsnerven haben. Schule deine Sinne für die genießerische Wahrnehmung. Wie wäre es zum Beispiel mal mit einem Wein-, Käse- oder Schokolade-Seminar, bei dem du die verschiedenen Aromen detaillierter zu unterscheiden lernst? Oder nimm dir mal ganze zehn Minuten Zeit, eine einzelne Rosine zu essen: Erst in Ruhe anschauen, berühren, daran riechen ... dann ganz langsam in den Mund nehmen, kauen, darauf achten, wie der Geschmack, der Geruch, die Konsistenz sich langsam verändern ... Oder nimm dir vor, einmal pro Woche etwas zu essen oder zu trinken, was du noch nie versucht hast - einfach, um deinem Erfahrungsrepertoire eine neue Facette hinzuzufügen!

Am besten nimmst du dir jeden Sinn einmal vor und probierst aus, wie du mit ihm genießen kannst:

  • Riechen: Suche dir fünf Gegenstände, die durch ihren Duft bei dir besonders angenehme Assoziationen auslösen (vielleicht ein Bund Lavendel, ein Rosmarinzweig, eine Vanilleschote ...)

  • Schmecken: Achte bei deinen nächsten Mahlzeiten ganz bewusst auf die verschiedenen Facetten dessen, was du da zu dir nimmst: ist es eher hart oder weich, trocken oder saftig? Schmeckt es bitter, süß, salzig oder sauer? Verändern sich Konsistenz und Geschmack, wenn du es eine Weile im Mund hast? Wo auf der Zunge nimmst du die Geschmacksqualität genau wahr?

  • Sehen: Nimm dir in deiner nächsten Leerlaufphase (in der Kassenschlange, beim Busfahren oder dergleichen) vor, jeweils drei unterschiedliche Objekte auszumachen:
    • von einer bestimmten Farbe
    • von einer bestimmten Struktur (glatt, rauh, genoppt ...)
    • von einer bestimmten Form (eckig, rund, oval ..)

  • Tasten: Schließ in der nächsten Woche immer mal wieder die Augen und fahre langsam und bewusst über verschiedene Oberflächen, die gerade in deiner Nähe sind. Wie fühlen sie sich an? Rau, glatt, hart, weich, kalt, warm? Konzentriere dich auch immer wieder mal darauf, wie deine Haut auf Umweltreize sonst so reagiert - den Sonnenstrahl auf deinem Arm, den kühlen Windzug auf deinem Gesicht, Wasser und Seife auf deinen Händen ...

  • Hören: Statt immer nur „nebenbei“ den i-pod zu nutzen, leg dich für ein Musikstück einmal lang auf den Boden, schließ die Augen und höre mit ganzer Konzentration zu. Kannst du in einem - vielleicht schon vertrauten - Stück neue Nuancen wahrnehmen, die dir bisher entgangen sind? Oder stell dir selbst die Aufgabe, jeden Tag fünf Geräusche von alltäglichen Verrichtungen ganz bewusst wahrzunehmen. Wie hört es sich z. B. an, wenn du morgens die Cornflakes in die Schüssel schüttest? Wie klingt das in die Wanne strömende Badewasser? Welchen Rhythmus hörst du in den Regentropfen am Fenster?

6. Genieße deinen Alltag!

Die kleinen Dinge des Alltags bieten oft viele Möglichkeiten zum Genießen, nur nehmen wir sie kaum noch wahr. Überprüfe doch mal deine Umgebung und deinen täglichen Routineablauf: Wo gibt es da kleine Genussinseln? Was kannst du verändern, damit immer wieder ein bisschen Genuss möglich wird? Wer nur auf den nächsten Urlaub oder etwas ganz Außergewöhnliches wartet, um genießen zu können, ist schlecht dran.

7. Genieße so, wie es speziell für dich passt!

Experimentiere, was dir ganz persönlich besonders gut tut - und wann es dir gut tut! Finde heraus, was du genießt, ohne dich dabei von äußeren „Einflüsterungen“ beirren zu lassen. Für jeden von uns bedeutet Genuss etwas anderes. Was bedeutet er für dich?

Viel Spaß beim Genießen!

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